Erdogan wirft EU Wortbruch vor
Nach dem gescheiterten Militärputsch in der Türkei gerät das Flüchtlingsabkommen mit der EU zunehmend ins Wanken. Ein Sprecher der EU-Kommission wies am Dienstag Vorwürfe des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zurück, die Europäische Union sei beim Flüchtlingspakt wortbrüchig.
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Unterdessen ging die Verhaftungswelle in der Türkei weiter, auch wurden erstmals zwei Offiziere im Ausland festgenommen. „Die europäischen Regierenden sind nicht aufrichtig“, sagte Erdogan am Montagabend in einem ARD-Interview. Die EU habe ihre finanziellen Versprechen zur Unterstützung der rund drei Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei bisher nicht gehalten. „Drei Milliarden waren zugesagt“, doch seien bisher nur symbolische Summen von ein bis zwei Millionen Euro eingetroffen.
EU-Kommission weist Vorwürfe zurück
„Wir stehen zu unserem Versprechen. Aber haben die Europäer ihr Versprechen gehalten?“, fragte Erdogan. Das im März geschlossene Abkommen sieht vor, dass die Türkei alle auf den griechischen Ägäis-Inseln ankommenden Flüchtlinge zurücknimmt, deren Asylantrag in Griechenland abgelehnt worden ist. Im Gegenzug sagte die EU zu, für jeden zurückgenommenen Syrer auf legalem Weg einen anderen syrischen Flüchtling aus der Türkei aufzunehmen. Zudem versprach die EU Hilfszahlungen von drei Milliarden Euro zur Versorgung syrischer Flüchtlinge in der Türkei.
Die EU-Kommission wies die Vorwürfe Erdogans zurück. Die Angaben seien „nicht wahr“, sagte der Kommissionssprecher in Brüssel. „Die EU respektiert ihre Verpflichtungen.“ Nach Kommissionsangaben wurden bisher 105 Millionen Euro zur Versorgung von Flüchtlingen in der Türkei ausgezahlt. Rund 740 Millionen Euro an Hilfsgeldern seien bereits freigegeben, erklärte ein Sprecher der EU-Kommission am Dienstag in Brüssel. Bis Ende des Monats werde die Summe um 1,4 Milliarden Euro auf rund 2,15 Milliarden Euro steigen.
Hahn: „Haben über 100 Millionen Euro gezahlt“
EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn wies die jüngsten Aussagen Erdogans, wonach im Rahmen des Flüchtlingsdeals nur ein bis zwei Millionen von zugesagten drei Milliarden Euro geflossen seien, scharf zurück. „Das ist schlicht und einfach falsch. Wir haben schon über 100 Millionen Euro gezahlt“, betonte Hahn am Dienstag im ORF-Mittagsjournal. Bis Ende des Sommers werde man über eine Größenordnung von 2,1 Mrd. Euro Bescheid wissen, „wo und wie dieses Geld einzusetzen ist“.
Angesprochen auf die von der Türkei gewünschte Visaliberalisierung, sagte der Kommissar, „das hängt von der Türkei ab“. Es gebe derzeit „täglich eine Dynamik, die schwer vorhersehbar ist, wann und ob die Kriterien vonseiten der Türkei erfüllt werden“.
EU sieht Anlass „zur größten Sorge“
Wie lange die EU noch zuschauen werde, jährlich 600 Millionen Euro aus dem EU-Budget an die Türkei zu senden, um das Land beitrittsfit zu machen? - Hahn: „Es gibt aufrechte Beschlüsse von uns, mit der Türkei ergebnisoffen zu verhandeln. Nun gibt es aktuelle Ereignisse, die uns mit allergrößter Sorge erfüllen. Es hat den Putsch gegeben, aber was hinterher passiert ist, gibt uns zur größten Sorge Anlass, wenn in unverhältnismäßig hoher Zahl Personen aus unterschiedlichsten Bereichen der Gesellschaft verhaftet werden“.
„Einhelligkeit und Klarheit“ herrscht laut Hahn darüber, dass bei Einführung der Todesstrafe die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu Ende sind. „Der Punkt ist nicht suspendierbar. Die Einführung der Todesstrafe wäre das Ende jeglicher Verhandlungen, mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen.“ Ob die Türkei überhaupt noch in die EU wolle? - Hahn: „Das ist eine gute Frage. Ein Wort der Bekenntnis würde hier vieles erleichtern.“
Asselborn will Verhandlungen nicht abbrechen
Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn lehnte es ab, die seit 2005 laufenden Beitrittsverhandlungen abzubrechen. „Wir müssen an die Menschen in der Türkei denken, viele setzen ihre Hoffnungen in die Europäische Union“, sagte der Minister der „Süddeutschen Zeitung“ (Dienstag-Ausgabe).
Erdogan hatte seine Forderung erneuert, die Todesstrafe wieder einzuführen. „Wenn wir uns in einem demokratischen Rechtsstaat befinden, hat das Volk das Sagen. Und das Volk, was sagt es heute? Sie wollen, dass die Todesstrafe wieder eingeführt wird“, sagte Erdogan. Er argumentierte, nur in Europa gebe es keine Todesstrafe. „Ansonsten gibt es sie fast überall.“
Fast 16.000 Menschen festgenommen
Seit dem Putschversuch gibt es in der Türkei eine Entlassungs- und Verhaftungswelle. Nach Regierungsangaben wurden bereits mehr als 16.000 Menschen festgenommen.
Am Dienstag wurden die Journalistin Nazli Ilicak bei einer Verkehrskontrolle in der südwestlichen Region Bodrum verhaftet, wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu berichtete.
Die Journalistin, die von 1999 bis 2001 im türkischen Parlament saß, war 2013 von der regierungsfreundlichen Zeitung „Sabah“ entlassen worden, weil sie mehrere Minister kritisiert hatte, die in einen Korruptionsskandal verwickelt waren. Die türkische Staatsanwaltschaft hatte am Montag Haftbefehle gegen insgesamt 42 Journalisten ausgestellt.
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