Erste Umfragen nach Mord an Jo Cox
Zwei Tage sind in Großbritannien die Kampagnen im Vorfeld des „Brexit“-Referendums wegen des Mordes an der proeuropäischen Parlamentsabgeordneten Jo Cox stillgestanden. Seit Sonntag ist nun wieder Wahlkampf. Die Gegner eines EU-Austritts haben Rückenwind.
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Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Survation für die Zeitung „The Mail On Sunday“ wollen am Donnerstag 45 Prozent der Briten für den Verbleib des Königreichs in der EU stimmen und 42 Prozent für den Ausstieg. Die Befragung wurde am Freitag und Samstag durchgeführt und ist damit die erste seit dem Mord an der Labour-Politikerin am Donnerstag.
Bei der letzten Umfrage des Instituts, ebenfalls am Donnerstag veröffentlicht, war das Ergebnis genau umgekehrt gewesen: 45 Prozent pro, 42 Prozent kontra „Brexit“. Die Website What UK Thinks ermittelt außerdem einen Durchschnittswert der letzten sechs veröffentlichten Umfragen. Hatte diese zuletzt die EU-Gegner noch mit vier Punkten in Führung gesehen, so lagen am Sonntag beide Lager wieder bei 50 Prozent.
„Tod den Verrätern“: Attentäter provoziert
Die Briten stimmen am Donnerstag darüber ab, ob sie die EU verlassen oder Mitglied bleiben wollen. Cox hatte seit Beginn der Kampagne für den Verbleib Großbritanniens in der EU geworben. Sie wurde vor einer Bürgersprechstunde in ihrem Heimatort Birstall von dem 52-jährigen Thomas M. ermordet worden. Bei seiner ersten Gerichtsanhörung am Samstag hatte dieser gerufen: „Tod den Verrätern, Freiheit für Großbritannien.“ Ob er Cox ermordete, weil sie für den EU-Verbleib kämpfte, ist aber noch nicht geklärt.
Cameron sieht keine zweite Chance
Für den britischen Premierminister David Cameron ist das Referendum unterdessen endgültig: Er sieht keine Möglichkeit für eine Rückkehr in die EU, sollten seine Landsleute mehrheitlich für einen Austritt stimmen. Es werde keine zweite Chance geben, über die Rolle Großbritanniens in der Union zu entscheiden, sagte er der „Sunday Times“. Es werde „eine unumkehrbare Entscheidung mit sehr schlechten Konsequenzen für die britische Wirtschaft.“
„Sunday Times“ taktiert mit Boris Johnson
Die Zeitung selbst empfahl ihren Lesern hingegen in einem Leitartikel, zunächst für einen Austritt zu stimmen. So solle der Druck erhöht werden, um eine tiefer gehende Reform der EU durchzusetzen. Diese würde es den Briten dann leichter machen, nach einem zweiten Referendum letztendlich doch in der Gemeinschaft zu bleiben. Die „Sunday Times“ griff damit einen Vorschlag des ehemaligen Londoner Bürgermeisters Boris Johnson auf, einem der prominentesten Verfechter eines EU-Austritts.
Auch die „Sunday Times“ veröffentlichte eine am Donnerstag und Freitag erstellte YouGov-Umfrage, wonach die EU-Befürworter ebenfalls wieder leicht vorne liegen: Sie kommen auf 44 Prozent, die zuletzt führenden EU-Gegner auf 43 Prozent. Der Umschwung habe aber nichts mit dem Attentat auf Cox zu tun, erläuterte das Blatt. Vielmehr spiegelten sich in der Erhebung wachsende Sorgen wegen möglicher wirtschaftlicher Folgen eines „Brexit“ wider.
Warnung vor „Dominoeffekt“
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker will der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ („FAS“) zufolge für kommenden Sonntag eine Sondersitzung der Kommissare einberufen, wenn die Briten für den Austritt stimmen. Die Kommission solle dann ihre Position für die Austrittsverhandlungen festlegen, die auf maximal zwei Jahre angesetzt seien.
Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn warnte, das britische Referendum könnte die EU-Gegner in Osteuropa beflügeln. „Es ist nicht auszuschließen, dass ein ‚Brexit‘ zu einem Dominoeffekt in Osteuropa führt“, sagte Asselborn dem deutschen „Tagesspiegel am Sonntag“.
Bankenaufsicht will aus London abziehen
Die Europäische Bankenaufsichtsbehörde (European Banking Authority, EBA) teilte mit, dass sie im Falle eines „Brexit“-Votums umziehen und damit London verlassen werde. „Wenn sich die Briten für einen Austritt aus der EU entscheiden, müssten wir tatsächlich in eine andere europäische Hauptstadt umsiedeln“, sagte der italienische EBA-Chef Andrea Enria der „Welt am Sonntag“.
Dennoch sei es wichtig, jetzt nicht das Ziel der einheitlichen Bankenregulierung in Europa aus den Augen zu verlieren. „Diese Arbeit muss getan werden, unabhängig davon, wie das Referendum ausgeht. Wir müssen sicherstellen, dass es keine unterschiedlichen Regeln gibt zwischen den Ländern, die den Euro haben, und denen, die ihn nicht haben.“
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