Ansteckung befürchtet
Das Schicksalsreferendum der Briten über ihre Zukunft in oder außerhalb der EU am 23. Juni wird die politische Landschaft auch außerhalb Großbritanniens umkrempeln. Wo man besonders eng mit Großbritannien ist, sorgt die Aussicht auf einen „Brexit“ mitunter für besonderes Kopfzerbrechen.
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In Gibraltar etwa, das zu den britischen Überseegebieten zählt, ruft die Aussicht auf einen möglichen EU-Austritt alles andere als Begeisterung hervor. Glaubt man Umfragen, wird die Mehrheit der Bewohner des „Affenfelsens“ am 23. Juni wohl für einen Verbleib stimmen. Von einer Ablehnung von bis zu 88 Prozent ist die Rede.
Im Clinch mit Spanien
Das EU-Sondermitglied fürchtet, dass ein „Brexit“ den Hoheitsrechtsstreit mit dem großen Nachbarn Spanien um ein Vielfaches verkomplizieren könnte. Gibraltar wurde 1713 mit dem Frieden von Utrecht den Briten zugesprochen, ganz anerkannt hat Spanien das allerdings bis heute nicht.
Angesichts eines möglichen „Brexits“ erinnerte Spaniens Außenminister Jose Manuel Garcia-Margallo an die Idee, Spanien und Großbritannien könnten sich die Souveränität über das Territorium teilen, um Gibraltar im Falle eines britischen EU-Austritts den Zugang zum Binnenmarkt zu sichern.
Diesem Vorschlag erteilte der gibraltarische Regierungschef Fabian Picardo in einem „Spiegel“-Interview eine eindeutige Absage: Gibraltar stehe „nicht zum Verkauf, wir werden den Zugang zum gemeinsamen Markt nicht mit der Souveränität bezahlen, wir bleiben weiterhin britisch.“ Den Ausschlag geben werden die Bürger von Gibraltar allerdings nicht: Die 24.000 Wahlberechtigten machen gerade einmal 0,05 Prozent der Gesamtzahl der rund 45 Millionen stimmberechtigten Briten aus.
Wirtschaft auch hier Thema
Gibraltar befürchtet andererseits auch, dass ein EU-Austritt dem prosperierenden Gebiet seine wirtschaftliche Grundlage entziehen könnte. Die Tourismusbranche gilt als einer der wichtigsten Wirtschaftszweige, pro Jahr besuchen rund zehn Millionen Urlauber die Region.
Die Angst, dass Spanien den Grenzübergang für Touristen und pendelnde Arbeitskräfte verkomplizieren könnte, ist groß. Außerdem hegt die Region Sorge, dass die durch einen „Brexit“ entstehende Unsicherheit die zahlreichen Versicherer, Onshore-Finanzgesellschaften und Glücksspielbetreiber verscheuchen würde, die sich derzeit wegen niedriger Steuersätze auf der Halbinsel befinden.
Ärger im Alterswohnsitz
Ebenfalls im Süden macht sich wegen der Perspektive eines „Brexits“ unter Tausenden Auswanderern Besorgnis breit. Rund 800.000 Briten haben in den vergangenen drei Jahrzehnten ihrer Insel den Rücken gekehrt, ein Drittel von ihnen genießt den Lebensabend in der wärmenden Sonne am Mittelmeer als Pensionisten.
Die britischen Auswanderer profitieren von der Freizügigkeit der EU-Bürger im gemeinsamen europäischen Haus, in Spanien gemeldete britische Pensionisten genießen zudem eine kostenlose Gesundheitsversorgung. Das sehen die Auswanderer auf dem Spiel: „Viele hier haben eine kleine Pension. Wenn wir in Zukunft für unsere Gesundheitsversorgung zahlen müssen, werden viele zurück nach England gehen - irgendwie müssen sie uns dann dort unterbringen“, so eine 80-jährige Auswanderin.
Innerirische Grenze als politischer Sprengstoff
Gezittert wird auch in weiten Teilen Irlands. Nebst zahlreichen Prognosen, die im Falle eines „Brexits“ schwere Schäden für Irlands Wirtschaft prophezeien, fürchtet auch Ministerpräsident Enda Kenny eine Ansteckungsgefahr für Irland, sollte die britische Wirtschaft infolge eines „Brexits“ schrumpfen. Nach den USA ist das Vereinigte Königreich der größte Importeur irischer Waren. Ein Drittel aller Importe nach Irland stammt aus Großbritannien.
Mit der Aussicht auf einen Austritt rückt nach langen Ruhejahren außerdem die nordirische Grenze wieder in den Fokus. Diese könnte mit einem Schlag zu Großbritanniens einziger Landverbindung mit einem EU-Staat werden. Was Konsequenzen hätte: Laut dem britischen Finanzminister George Osbourne würde ein Austritt eine „harte“ innerirische Grenze mit Waren- und Personenkontrollen unvermeidlich machen, damit sich EU-Bürger nicht „durch die Hintertür“ nach Großbritannien einschleichen.
Auch Befürworter wollen Kontrollen
Diese Perspektive malt nicht nur ein dunkles Bild für Alltag und Wirtschaft, sie schürt die Furcht vor einem Wiederaufflammen des Nordirland-Konflikts. Die Öffnung der Grenze sei ein wichtiger Faktor gewesen, um das Karfreitagsabkommen abzuschließen, so Ex-Premierminister Tony Blair kürzlich. Dieses hatte die mehr als 30 Jahre andauernden Gewaltphase zu einer politischen Lösungssuche umgeleitet.

APA/ORF.at
Grenzkontrollen zwischen Nordirland und Irland bieten politischen Sprengstoff
Derzeit sei die Grenze „absolut unwichtig für das einfache Individuum“, so ein Nordire gegenüber dem britischen „Guardian“. Dass die rund 500 Kilometer lange Grenze zum Arbeiten oder Einkaufen überschritten wird, ist Alltag. Laut der „NZZ“ gibt es heute rund 24.000 Grenzgänger. Grenzkontrollen stehen im Übrigen auch für nordirische Austrittsbefürworter nicht zur Option. Die Grenze zwischen Irland und Nordirland müsse „so fließend bleiben, wie es heute ist“, so Nordirland-Ministerin und „Brexit“-Befürworterin Theresa Villiers.
Abhängig von Hilfsgeldern
Auch weiter im Inland wären die Folgen eines „Brexits“ in Nordirland besonders schmerzlich zu spüren. Das Budget der Region ist grundsätzlich defizitär, die Abhängigkeit von Londoner Hilfsgeldern groß. Würde das Land nun auch noch aus der EU austreten, kämen unter anderem nordirische Bauern in schwere Bedrängnis. Sie sind von EU-Agrarsubventionen abhängig.
Die Region erhält außerdem im Rahmen eines „operationellen Programms für Frieden und Versöhnung“ 333 Mio. Euro von der EU, wovon 225. Mio. aus dem EU-Strukturfonds stammen. Nordirische „Brexit“-Befürworter hoffen darauf, dass London die wegfallenden EU-Gelder schultern würde.
Schottlands Premier ruft nach Referendum
Die Aussicht auf einen „Brexit“ sorgt auch in Schottland für Unmut. Dort wollen laut Umfragen zwei Drittel in der EU verbleiben. SNP-Premierministerin Nicola Sturgeon hat am Mittwoch in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters erneut bekräftigt, dass Schottland nach einem neuen Unabhängigkeitsreferendum rufen könnte, falls sich Großbritannien gegen den Willen einer Mehrheit der Schotten für den „Brexit“ entscheiden sollte. Langfristiger Plan wäre wohl ein eigenständiger EU-Beitritt der Schotten.
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