Themenüberblick

Von Menschen, Pferden und anderen Tieren

Die Sachbücher der Saison sind gelehrt, aber nicht belehrend - und sie zeigen, dass Wissenschaft und gut recherchierter Journalismus nicht langweilig sein müssen, sondern sehr wohl auch gut erzählt sein können.

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„Mansplaine mich nicht!“

Mit „Wenn Männer mir die Welt erklären“ („Men explain things to me“) landete Rebecca Solnit nicht nur einen Hit in der neueren feministischen Literatur, sie schuf damit auch einen Begriff für ein Phänomen, das viele Frauen kennen: Mansplaining. Im ersten Teil der Essaysammlung beschreibt sie, wie ihr ein Mann auf einer Party eindringlich ein Buch ans Herz legt, das sie unbedingt lesen müsse. Erst nach mehreren Versuchen, seine Tirade zu stoppen, kann sie ihm klarmachen, dass er von ihrem eigenen Buch spricht. Die übrigen Kapitel sind ernsthafter, sie setzen sich zum Teil mit harten Themen wie Vergewaltigung, Mord und Gewalt an Frauen auseinander.

Rebecca Solnit: Wenn Männer mir die Welt erklären: Essays. Hoffmann und Campe, 176 Seiten, 16,50 Euro.

Aufdeckerbuch: „Krieg“ im Vatikan

Als die „Geschichte eines Krieges“ moderiert der Journalist, Autor und Aufdecker Gianluigi Nuzzi sein Buch „Alles muss ans Licht“ ein: ein Krieg, der von Papst Franziskus „in den Hinterzimmern der vatikanischen Paläste geführt wird“. Das Buch enthält einiges an Zündstoff. Neben den Vorwürfen der Korruption und Geldverschwendung kommen darin auch sexueller Missbrauch und die Ausschweifungen einzelner Geistlicher zur Sprache. Dass Jorge Mario Bergoglio selbst dem Autor zufolge einen leidvollen Kampf gegen unsichtbare Mächte führt, verrät bereits der Untertitel, „das geheime Dossier über den Kreuzweg des Papstes“.

Gianluigi Nuzzi: Alles muss ans Licht. Das geheime Dossier über den Kreuzweg des Papstes. Ecowin, 384 Seiten, 21,95 Euro.

Bücher

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Philosophisch-historisches Pingpong

Ein Dialog als eine „Reise ins Unsagbare“: Der Residenz Verlag veröffentlichte ein Gespräch des mehrfach preisgekrönten Autors Gerhard Roth mit dem Schriftsteller und Ethnologen Hans-Jürgen Heinrichs. Heinrichs und Roth werfen einander rhetorisch gedrechselte, philosophische und historische Stichworte zu. Roth steigt dabei tief hinab in die Tiefen und Untiefen der eigenen Psyche, um von dort aus die Welt zu beleuchten. Die Themen der beiden sind Religion, Kunst, Wahn, Verbrechen, fremde Länder, Texte großer Geschichtenerzähler und Philosophen seit der Antike ebenso wie der Alltag der Menschen in Stadt und Land.

Gerhard Roth und Hans-Jürgen Heinrichs: Reise ins Unsagbare. Residenz Verlag, 183 Seiten, 21,90 Euro.

Abgesang auf das Pferd

Vergöttert wurde das Pferd früher, gefürchtet und respektiert. Ganze Armeen zogen auf ihm in den Kampf, ein Großteil bäuerlicher Landwirtschaft war von ihm abhängig. Und das Pferd war eine jahrtausendelang unübertroffene Rennmaschine. Der ehemalige Feuilletonchef der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und Kulturwissenschaftler Ulrich Raulff widmete dem bisher weitgehend ignorierten Abschied vom Pferd in Richtung Wellnessgerät ein ganzes Buch - gelehrt, essayistisch, spannend und unterhaltsam zugleich. Am Ende wünscht man sich gemeinsam mit Raulff nichts sehnlicher als das: ein Comeback des Pferdes.

Ulrich Raulff: Das letzte Jahrhundert der Pferde. Geschichte einer Trennung. C. H. Beck, 461 Seiten, 30,80 Euro.

Henning Mankells Abschiedsbuch

Im Oktober erlag der schwedische Erfolgsautor Henning Mankell seinem Krebsleiden. Er war berühmt für seine Krimis, wurde aber auch für sein Theaterengagement in Afrika und seine essayistischen Texte geachtet. Bereits von der Krankheit gezeichnet verfasste er einen Rückblick auf sein Leben und schrieb über seinen Umgang mit dem Krebs, sein Hadern mit dem Tod, über die Religion - die ihm keine Hilfe war. Im Grunde schrieb er ein Buch über den Sinn des Lebens und bewies durch diesen bestechenden Text, dass zumindest sein Leben einen Sinn hatte.

Henning Mankell: Treibsand: Was es heißt, ein Mensch zu sein. Zsolnay, 384 Seiten, 25,60 Euro.

Ein Porträt von „Helmet“ Mueller-Stahl

Für die einen wird er immer der Taxifahrer und frühere Zirkusclown Helmut „Helmet“ Grokenberger aus Jim Jarmushs „Night on Earth“ bleiben, für die anderen Konsul Jean Buddenbrook: Armin Mueller-Stahl. Sein Freund, der Journalist Volker Skierka, verfasste ein einfühlsames Porträt des deutschen Ausnahmeschauspielers, dessen Leben zwischen TV-Produktionen und Hollywood-Filmen („Akte X“), zwischen Kunst und gehobener Unterhaltung verläuft. Mueller-Stahl, erfährt man hier, ist nicht nur vielgesichtig, sondern auch „vielgeschichtig“, soll heißen, es gibt viel über ihn zu erzählen.

Volker Skierka: Armin Mueller-Stahl. Die Biographie. Hoffmann und Campe, 319 Seiten, 22,70 Euro.

Was man über Drogen wirklich wissen sollte

Drei Jahre lang reiste der britische Journalist Johann Hari um die Welt, sprach mit Süchtigen, Dealern, ehemaligen Gangmitgliedern, Experten, Ärzten, Polizisten, Politikern, Aktivisten, durchstöberte Archive und Bibliotheken. Dann schrieb er mit „Drogen“ eines der spektakulärsten Bücher der letzten Jahre. Es ist keine Polemik, sondern eine vor Fakten und Zitaten strotzende Reportage. Selbst die banalsten Fragen werden neu gestellt: Machen Drogen süchtig? Muss ihr Konsum bekämpft werden? Haris Antworten sind mehr als nur überraschend. Ein Weltbild gerät ins Wanken.

Johann Hari: Drogen. Die Geschichte eines langen Krieges. S. Fischer, 438 Seiten, 25,70 Euro.

Arbeiten im alten Wien

Wieder hat der Metroverlag einen Angelpunkt gefunden, um die Geschichte des Alten Wien als allgemeingültiges Gesellschaftspanorama und als Sozialgeschichte packend zu erzählen - indem Berufe vorgestellt werden, die es gar nicht mehr, kaum noch oder nur noch in gänzlich abgeänderter Form gibt. So erzählt das Buch etwa vom sogenannten Sperrsechserl, das man früher dem Hausmeister zahlen musste, um noch nach 22.00 Uhr ins Haus zu kommen. Und es geht um Hofagenten, die nicht etwa Spione waren, sondern Lobbyisten im k. u. k. Universum. Oder um Tuchscherer und Schönfärber - zwei der Berufe, die mit dem Aufkommen der modernen Textilindustrie weitgehend verschwunden sind. Und was genau machte eine Mundwäscherin? Ein kurioses wie lehrreiches Buch.

Andreas Schindl und Bernd Matschedolnig: Korvettenkapitän und Mundwäscherin. Was man in Wien einmal werden konnte. Metroverlag, 189 Seiten, 19,90 Euro.

Rezepte für „g’standene“ Veganer

Was hat die traditionelle Wiener Küche für Veganer zu bieten? Nichts, sollte man meinen, außer man verwendet zweifelhaft schmeckende, chemische Fleischersatzprodukte oder hält sich an Süßspeisen mit ähnlichem Milchersatz. Weit gefehlt, wie im Kochbuch „Wiener Küche Vegan“ nachzulesen ist. Von zahlreichen Gulaschköstlichkeiten über diverse Knödelgerichte und gebackenem Gemüse bis hin zu herzhaften Gemüsesuppen aller Geschmacksrichtungen: Es muss nicht immer 80er-Jahre-Veggie-Eso-Küche sein, wenn es vegan sein soll. Rezepte für „g’standene“ Veganer.

Wiener Küche Vegan. Holzbaum, 159 Seiten, 19,99 Euro.

Bücher

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Schwelgen in Sprache und Lebensklugheit

Es soll kein Wortspiel sein, aber bei Alexander Kluge schwingt mit seinem umfassenden Wissen immer eine große Portion Lebensklugheit mit. In seinem jüngsten Band „Chronik des Zusammenhangs“, einer losen Fortsetzung der „Chronik der Gefühle“, sind Essays und Kurzgeschichten nach Themenblöcken angeordnet. Zum Thema Reparieren etwa findet sich eine Geschichte über eine Ehe genauso wie eine Abhandlung über den Verlust der großen Expertise der DDR-Bürger in Sachen Reparatur von Gegenständen. Ein wundervolles Buch, in dem man sich verliert. Man kann in Kluges Sprache und Gedanken schwelgen. Der Kulturwissenschaftler hat etwas von einem Universalgelehrten - und ist ein großartiger Erzähler. Höchste Empfehlung.

Alexander Kluge: Kongs große Stunde. Chronik des Zusammenhangs. Suhrkamp, 680 Seiten, 39,10 Euro.

Der Hunger - eine gemachte Katastrophe

„Wie zum Teufel können wir weiterleben, obwohl wir wissen, dass diese Dinge geschehen?“ Dieser Satz findet sich auf dem Cover von Martin Caparros’ ausführlichem, in jahrelanger Kleinstarbeit recherchierten Buch „Der Hunger“. Nicht nur das Weiterleben, auch das Weiterlesen fällt schwer. So atemberaubend devastierend und erschütternd ist es, was Caparros hier zutage fördert. Alles hängt mit allem zusammen, niemand kann sich aus der Verantwortung stehlen. Hunger ist eine Epidemie, die einfach auszumerzen wäre. Wenn man wollte. Aber man will nicht. Ein schmerzhaftes Buch, das Pflichtlektüre an Schulen sein sollte.

Martin Caparros: Der Hunger. Suhrkamp, 844 Seiten, 30,80 Euro.

Auf den Spuren des Teufels

Der renommierte Historiker Kurt Flasch begibt sich in „Der Teufel und seine Engel“ auf eine Spurensuche nach den Wurzeln des Teufels. Diese sieht Flasch im Orient, seine lange „Karriere“ jedoch erlebte der Gottseibeiuns überwiegend in Europa. Der Historiker verfolgte die Genese seines Protagonisten in den biblischen Texten sowie den Schriften der griechischen Philosophen und christlichen Kirchenväter. Als einen Höhepunkt seines „Wirkens“ verfolgt der Autor die Rolle des Teufels und seiner Dämonen in der Zeit der Hexenprozesse und schlägt einen Bogen bis in die heutige Zeit.

Kurt Flasch: Der Teufel und seine Engel. Die neue Biographie. C. H. Beck, 462 Seiten, 27,80 Euro.

Globale Volatilität, erste Reihe fußfrei

Die internationale Politik erreichte in den letzten Jahren ein bisher nicht gekanntes Maß an Komplexität und Volatilität. Quasi erste Reihe fußfrei beobachten ORF-Korrespondenten in Brüssel, Moskau, Berlin und Washington das diplomatische Fechten und Stechen. Peter Fritz, Christian Lininger, Birigt Schwarz und Hannelore Veit liefern in ihrem Buch spannende Einblicke in die Mechanismen der globalen Politik, in die Denkwege von Entscheidungsträgern in diesen scheinbar unlösbaren Verwicklungen und in die Herausforderungen, die das für Journalisten täglich mit sich bringt.

Peter Fritz, Christian Lininger, Birgit Schwarz, Hannelore Veit: Aus dem Gleichgewicht: Droht ein neuer Kalter Krieg? Styria, 221 Seiten, 26,90 Euro.

Von „Volare“ bis „Life is Life“

Als „The Kingsmen“ 1963 den Song „Louie Louie“ aufnahmen, um sich als Kreuzfahrtmusiker zu bewerben, wurden sie zwar abgelehnt, doch widmete ihnen fortan das FBI größte Aufmerksamkeit. Drei Jahre lang dauerte die erfolglose Untersuchung des Textes, dem man obszöne Inhalte nachweisen wollte. Das illustrierte Buch stellt berühmte wie weniger bekannte Hits anhand von kurzen Anekdoten vor und liefert mit der dazugehörigen Tumblr-Website mit Musikvideos samt Coverversionen die musikalische Untermalung dazu. Auf Deutsch und Englisch.

Marcus Lucas, Carolin Löbbert: Ice Ice Baby. One Hit Wonders 1955 - 2015. Avant-verlag, 168 Seiten, 22,70 Euro.

Whiskey und Schnecken

Mason Currey stellte eine Sammlung an Zitaten und Geschichten zusammen, die amüsanter nicht sein könnte: Künstler beschreiben ihre täglichen Alltags- und Arbeitsrituale. So zum Beispiel Günter Grass, der nichts davon gehalten habe, nachts zu schreiben, denn „das ginge viel zu leicht“. Ganz anders wie Knut Hamsun, dem viele seiner Ideen nachts gekommen seien - er döste lieber den Tag über und nutzte die klaren wachen Stunden der Nacht. Franz Liszt wiederum schlief grundsätzlich wenig, trank und rauchte ununterbrochen, „stand aber dafür jeden Morgen um 4.00 Uhr auf“. Truman Capote war ebenso ein leidenschaftlicher Raucher und Trinker, der es vorzog im Liegen nachzudenken: „Ich bin ein durch und durch horizontaler Schriftsteller.“ Aber auch von Leidenschaften anderer Art wird berichtet, wie etwa von Patricia Highsmiths Schneckenzucht.

Mason Currey: Musenküsse. Die täglichen Rituale berühmter Künstler. Kein & Aber, 272 Seiten, 16,00 Euro.

Von Bagdad bis Wien-Favoriten

In “Stories 1995 - 2015” versammelt der österreichische Autor und Journalist JM Stim (Klaus Stimeder) Texte aus den letzten 20 Jahren seiner Arbeit. Und diese könnten kaum unterschiedlicher sein. Da reihen sich Reportagen aus Bagdad und Wien-Favoriten an Interviews mit John Lurie, der die Filmmusik für die Meisterwerke von Jim Jarmusch komponierte, und Mohammed Mahmud, der Jahre später als österreichischer Islamist Schlagzeilen machte. Dennoch ergibt “Stories 1995 - 2015” am Ende ein großes Ganzes. Und darin wandeln sich - wie Michael Frank, langjähriger Österreich-Korrespondent der „Süddeutschen Zeitung“, im Vorwort schreibt – “Zeitfunken und Banalitäten in Geschichten und Geschichte”.

JM Stim: Stories 1995 – 2015. Redelsteiner dahimene edition, 239 Seiten, 16,90 Euro.

Auf Skiern im alten Japan

Wer kennt hierzulande Theodor von Lerch? Die Japaner errichteten dem k.u.k. Offizier gleich mehrere Denkmäler, denn der Aufenthalt des Österreichers in Fernost hatte – anders als geplant – außer militärischen auch sportliche Effekte. Der leidenschaftliche Skiläufer Lerch trug erheblich dazu bei, den Skisport in Japan populär zu machen. Die Aufzeichnungen Lerchs während seines zweijährigen Aufenthalts in Japan wurden nun erstmals auf Deutsch veröffentlicht. Viel spannender als die Passagen, in denen er den Japanern seine Skikünste vorführt, lesen sich Lerchs Reise- und Sittenbeschreibungen des alten Japan. Er staunt über unnahbare Geishas, den Japaner als „Fanatiker der Fotografie“ und die Wunder der Kirschblüte. Theodor von Lerch - ein Militär mit Sinn für Poesie.

Sepp Linhart und Harald Pöcher (Hg.): Wie der alpine Skilauf nach Japan kam. Mandelbaum, 399 Seiten, 19,90 Euro.

Schonungsloses Selbstexperiment

Was mit dem Verkauf gebrauchter Unterhosen und getragener Socken begann, endete nach sechs Monaten knietief in der Fetischisten-Szene. In diese entführen zwei Journalisten (unter Pseudonymen) den Leser mit der Verschriftlichung ihres schonungslosen Selbstexperiments. Hauptakteurin ist die dafür kreierte Kunstfigur „Tina“, ein 18-jähriges Schulmädchen, das vom weiblichen Autorenpart verkörpert wird. Auch wenn die Erschaffer „Tinas“ mit dem brutal ehrlichen Protokoll ihrer Erfahrungen zeigen wollen, dass Fetisch nicht abartig ist - ein bisschen ekeln darf sich der Leser angesichts akribisch beschriebener Fußleck-Sessions und Natursekt-Auftritte dann doch.

Viktor Vosko und Caroline Sieling: Das Fetisch-Experiment - Undercover in der Szene. Ueberreuter, 180 Seiten, 16,99 Euro.

Bücher

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Den Alltag austricksen

Ein nettes und unverbindliches Geschenkbuch, das für die Uniprofessorin genauso passt wie für jemanden, der sonst selten ein Buch zur Hand nimmt: In „Life Hacks“ sind 1.000 kurze Tipps gesammelt, die das Leben leichter machen sollen. Auf zehn lustige und skurrile Tricks folgt einer, der wirklich brauchbar ist - das ist ein guter Schnitt. Etwa für Silvester: Wirft man eine Rosine in den Champagner, kehrt die Kohlensäure zurück. Und Rotweinflecken können mit Weißwein entfernt werden. Oder für unterwegs: In Gratis-WLAN-Zonen mit Zeitbeschränkung einfach nach Ablauf Cookies löschen und neu einloggen.

Keith Bradford: Life Hacks. 1000 Tricks, die das Leben leichter machen. Rororo, 207 Seiten, 10,30 Euro.

Der Gauß’sche Zauber des Alltags

Prägnant und stilistisch versiert spannt der Sprachvirtuose Karl-Markus Gauß in „Der Alltag der Welt“ einen Bogen von einer Koreanerin, die sich selbst heiratet, bis hin zum Tod Margaret Thatchers und präsentiert ein persönliches Tagebuch zur Zeitgeschichte. Er erzählt zugleich witzig und nachdenklich von den einfachen und verwirrenden Dingen des Lebens, dem Zauber des Alltags und den großen Themen der Jahre 2011 bis 2013. Egal ob Neue Medien, Neoliberalismus, Turbokapitalismus oder Nacktscanner am Flughafen – Gauß behandelt alle Themen persönlich und bewusst distanzlos.

Karl-Markus Gauß: Der Alltag der Welt. Zsolnay, 336 Seiten, 23,60 Euro.

Ein Biotop aus Regalen und Büchern

Der Journalist Sasha Abramsky schuf mit seinem Buch „Das Haus der zwanzigtausend Bücher“ seinem Großvater ein Denkmal. Mehr noch: Es ist eines für die Hohe Kunst, Literatur und Philosophie, diese nicht nur zu lesen, sondern auch zu leben. Inmitten seiner Tausenden Manuskripte, Erstausgaben und Sammlerstücke hielt der Großvater Hof - die linksintellektuelle Elite ging bei ihm ein und aus. Sasha Abramsky durchschreitet die Bibliothek noch einmal und entdeckt den Großvater neu - genauso wie das 20. Jahrhundert.

Sasha Abramsky: Das Haus der zwanzigtausend Bücher. DTV, 382 Seiten, 23,60 Euro.

Pippi Langstrumpfs starke Mutter

Astrid Lindgrens Tagebuch liest sich wie eine Außenbeobachtung des Zweiten Weltkriegs - mit ihr selbst in der Rolle der staunenden Zeugin: „Die Menschheit hat den Verstand verloren.“ Nicht nur, dass Lindgren eine präzise politische Beobachterin ist. Privat kämpft sie auch während des Krieges um das Leben der ständig bronchien- und lungenkranken Tochter, muss miterleben, wie ihr alkoholkranker Mann sie betrügt und verlässt und bringt dabei noch die Kraft auf, den vielleicht schönsten Kinderroman der Welt zu schreiben. Ein inspirierendes Weihnachtsgeschenk für alle, die es gerade nicht leicht haben.

Astrid Lindgren: Die Menschheit hat den Verstand verloren. Tagebücher 1939 - 1945. Ullstein, 573 Seiten, Hardcover 24,70 Euro.

Gräten an der Zimmerdecke

„Verschwundene Bräuche“ ist ein unterhaltsames, schön gelayoutetes Kompendium mit 300 alphabetischen Einträgen, dem zur vollen Zufriedenheit nur ein Hintergrundtext fehlt: Wie wirkten sich die verlorenen Bräuche auf die Gemeinschaft aus? Aber auch das Anekdotische macht Spaß. Zum Beispiel, wenn es unter F ums „Fischseelen“ Werfen geht: In der Alpengegend wurde das Grätenskelett des Weihnachtskarpfens an die Zimmerdecke geworfen - blieb sie dort picken (man mag sich gar nicht vorstellen, warum und womit), sollte der Weihnachtsfisch 100 Jahre später als goldenes Rössel mit Geschenken wiederkehren. Den Zauber bezeugen oder widerlegen konnte dann natürlich niemand mehr.

Helga Maria Wolf: Verschwundene Bräuche. Das Buch der untergegangenen Rituale. Brandstätter Verlag, 232 Seiten, Hardcover 34,90 Euro.

Völkerkunde einmal anders

Wer mehr über die Konstruktion von Völkern, Nationen und Ethnizitäten wissen will, erfährt es in Richard Schuberths Buch mit dem ironischen Titel „Bevor die Völker wussten, dass sie welche sind“. Trotz des wissenschaftlichen Charakters macht der mitunter witzige Stil des Schriftstellers und Ethnologen das Buch zu einem außergewöhnlichen Lesevergnügen. Und en passant wird eine wortgewaltige Polemik gegen eingebildete Identitätsverortungen und die Reduktion von Menschen auf ihre angeblichen Kulturen mitgeliefert.

Richard Schuberth: Bevor die Völker wussten, dass sie welche sind – Ethnizität, Nation, Kultur. Eine (antiessenzialistische) Einführung. Promedia Verlag, 224 Seiten, 19,90 Euro.

Bücher

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Ein Abschied von Hamburg

Hamburg ohne Helmut Schmidt, Helmut Schmidt ohne Hamburg? Das ist kaum vorstellbar. Doch der Ehrenbürger der Hansestadt verstarb vor einem Monat. „Dann wäre ich Hafendirektor geworden“ ist eine Sammlung von ausgewählten Texten, Gesprächen, Interviews und Fotos, die Schmidts Verhältnis zum „Tor zur Welt“ auf besonders liebevolle Art und Weise beschreiben. Fast könnte man meinen, er wollte sich mit dem Buch ganz persönlich von seinen vielen Verehrern - aber vor allem von den Hamburgern - verabschieden.

Helmut Schmidt: Dann wäre ich Hafendirektor geworden. Hamburger Ansichten. Hoffmann und Campe, 256 Seiten, 22,00 Euro.

Von Pythagoras bis Wittgenstein

Um die abendländische Philosophie auf 152 Seiten verständlich zusammenzufassen, hält sich Helme Heine an Nietzsches Behauptung, man könne das Bild eines Menschen anhand von drei Anekdoten zeichnen. Entstanden ist ein kleines Büchlein, in dem der Autor und Zeichner kurz und bündig die wichtigsten Philosophen, ihr Leben und die Prinzipien ihrer Lehren vorstellt, jeweils mit einer Zeichnung versehen. Geeignet für Jung und Alt - und zur Jahreszeit passend: Denn wann philosophieren, wenn nicht an den Weihnachtstagen?

Helme Heine: Oh... diese Philosophen. C. Bertelsmann, 152 Seiten, 12,00 Euro.

Der Hitler-Rausch

Norman Ohler behauptet in „Der totale Rausch. Drogen im Dritten Reich“, den „blinden Fleck“ in der NS- und Hitler-Forschung sichtbar zu machen: Hitlers angeblich immensen Drogenkonsum. Denn dieser spiele eine maßgebliche und richtungsweisende Rolle in der Entwicklung des Nationalsozialismus, die bisher außer Acht gelassen worden sei. Es sind insbesondere die Aufzeichnungen von Hitlers Leibarzt Theodor Morell, auf die der Autor seine These stützt. Eine Mischung aus Roman und Sachbuch, spannend allemal.

Norman Ohler: Der totale Rausch. Drogen im Dritten Reich. Kiepenheuer & Witsch, 368 Seiten, 19,99 Euro.

Zweimal um das Universum

Einen Preis für den besten Buchtitel des Jahres haben sich die Science Busters auf jeden Fall verdient: „Das Universum ist eine Scheißgegend“. Noch mit dem vor Kurzem verstorbenen Physiker Heinz Oberhummer schrieben sie ein wie immer witziges und lehrreiches Buch über die unendlichen Weiten (und wie sehr diese stinken). Ebenfalls unterhaltsam liest sich das Buch der Astronomin Lisa Kaltenegger, die nach Leben im All sucht - kreativ, unkonventionell und dennoch höchst wissenschaftlich. Zwei Bücher, die Lust auf Wissenschaft machen.

Science Busters: Das Universum ist eine Scheißgegend. Hanser, 328 Seiten, 20,50 Euro.

Lisa Kaltenegger: Sind wir allein im Universum? Ecowin, 208 Seiten, 19,95 Euro.

Der Kampf um die „Seele des Sünders“

Folter und Hinrichtungen in der frühen Neuzeit waren neben ihrer Funktion als Volksspektakel in einer Zeit der sich wandelnden Grenzen auch wichtig für die territorialen Ansprüche von Fürsten und Städten. Peter Schuster räumt in seinem Buch „Verbrecher, Opfer, Heilige“ mit den Mythen der Abschreckung durch Folter und Hinrichtung auf. Denn vor allem Ortsfremde waren von den extrem harten Strafen betroffen, wie Schuster anhand der Auswertungen von Berichten, Katastern und Ähnlichem zeigt. Dabei analysiert er auch die stetig wachsende Rolle der Kirche und den Kampf um die „Seele des Sünders“ in der Nachfolge von Jesus am Kreuz in der Geschichte des sanktionierten Tötens. Nebenbei liefert Schuster auch eine Genealogie der einzelnen Hinrichtungsarten und ihrer tiefergehenden Bedeutung mit.

Peter Schuster: Verbrecher, Opfer, Heilige. Eine Geschichte des Tötens. Klett-Cotta, 416 Seiten, Hardcover 27,70 Euro.

Ein Muslim, fasziniert vom Christentum

Der bekannte Orientalist, Friedenspreisträger und Autor Navid Kermani näherte sich in „Ungläubiges Staunen. Über das Christentum“ diesem über die Ästhetik seiner Kunstwerke an. In kurzen Kapiteln zu Themen wie Liebe, Tod und Auferstehung verfolgt er jeweils einen Gedanken, der aus der Betrachtung eines Kunstwerks heraus entstand. So macht Kermani Eindrücke, die er durch Werke großer Künstler wie Caravaggio, Rembrandt, Veronese, Perugino, El Greco und anderen gewann, zum Ausgangspunkt für gedankliche Ausflüge in eine Religion, zu der er als Muslim keinen selbstverständlichen Zugang hat.

Navid Kermani: Ungläubiges Staunen. Über das Christentum. C. H. Beck, 304 Seiten, 24,95 Euro.

Gelähmt - was bedeutet das?

Tom Gschwandtner hat über sein Leben mit Querschnittslähmung geschrieben. Über den Unfall, die ersten Sekunden, in denen er bemerkte, dass er seinen Körper nicht mehr spürt. Über die bange Zeit in Krankenhaus und die Rehabilitation. Über seine Frau, die zu ihm gehalten hat. Und dann: über seine Arme, die er bewegen kann, über zwei Kinder, die auf ihm und seinem Rollstuhl herumklettern, über einen Hausbau, über glückliche Momente. Ein durchwegs in unterhaltsamem, leichtem Stil geschriebenes Buch für alle, die sich ein Stück von der Energie Gschwandtners zum wieder Aufrappeln nach Schicksalsschlägen abschneiden wollen. Und auch für alle Neugierigen (das ist nicht verwerflich), die einfach wissen wollen, wie das so ist.

Tom Gschwandtner: Gelähmt ist nicht gestorben. Kremayr & Scheriau, 190 Seiten, 22 Euro.

Dem Witz auf der Spur

Jim Holt begibt sich in seinem kleinen Büchlein auf die Spur der Witze. Manche davon sind Wiedergänger. Bis zu 15 Jahrhunderte reichen die Abstammungslinien eines Witzes zurück, der in veränderter Form noch im 20. Jahrhundert erzählt wurde. Heute verbreiten sich Witze über Soziale Medien viel rascher als früher und vor allem auch weiter, sogleich finden sich Übersetzungen in andere Sprachen. Aber es gibt auch Witze, die ganz spezifische Situationen (Dissidenten in Osteuropa, an Aids Erkrankte) zum Thema haben und losgelöst von ihrem Umfeld und ihrer Zeit nicht funktionieren. Man darf lachen. Holt hat viele Beispiele parat.

Jim Holt: Kennen sie den schon? Rowohlt, 141 Seiten, 12,40 Euro.

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ORF.at/Thomas Hangweyrer

Verführung zum Wandern

Semmering, Rax und Schneeberg: Die Hausberge der Wiener werden gerne unterschätzt. Aber die Landschaft bietet hochalpine Erlebnisse und erhabene Natur. Eva Gruber kennt die Region wie ihre Westentasche und stellte 22 Routen zusammen, die zum Wandern verführen. Ihre Beschreibungen sind mit zahlreichen stimmungsvollen Fotos illustriert. Das Buch richtet sich sowohl an Liebhaber der Region als auch an jene, die sie erst entdecken wollen.

Eva Gruber: Semmering, Rax, Schneeberg. 22 Wanderungen. Bergverlag Rother, 160 Seiten, 29,80 Euro.

Konterrevolution im Psychofach

Philipp Hübl ist Philosoph und übt Kritik am Wissenschaftsbetrieb. Wissenschaftliche Erkenntnisse würden es immer dann in Fachmagazine und breitenwirksame Medien schaffen, wenn sie spektakulär klingen - also eigentlich unwahrscheinliche Ergebnisse darstellen. Hübl findet, dass sich dadurch allzu oft schwachsinnige Ansichten durchsetzten. Am Beispiel des Begriffs des Unbewussten zeichnet er diese Entwicklung nach und bricht eine Lanze für unspektakuläre Forschung. Hübl legt nahe: Nein, das Unbewusste ist keine dunkle Kammer, die uns mittels Geheimmechanismen beherrscht und uns den freien Willen raubt.

Philipp Hübl: Der Untergrund des Denkens. Rowohlt, 478 Seiten, 20,60 Euro.

Simon Hadler, Lena Eich, Carola Leitner, Johanna Grillmayer, Maya McKechneay, Romana Beer, Sonia Neufeld, Peter Bauer, Armin Sattler, Petra Fleck, alle ORF.at

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