Themenüberblick

Bücher zum Sichverlieren

Die Romane der Saison laden zum Schmökern, zum Sichverlieren und zur Reflexion ein. Auch Humor kommt diesmal nicht zu kurz.

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Ein Gesellschaftspanorama

Die kurze Form wird oft zu Unrecht vernachlässigt. Einer der Meister der kleinen Form ist Donald Antrim. Worum es in seinen Kurzgeschichten geht, welcher Rhythmus sie antreibt, das ist am besten beschrieben, wenn man seine Fans aufzählt: Jonathan Franzen, Richard Ford, Jeffrey Eugenides. Ein weiterer Hinweis: Viele seiner Geschichten erscheinen im „New Yorker“. Die etwa 30 bis 50 Seiten langen Storys liefern ein Gesellschaftspanorama der USA, erzählen über das Menschsein - und laufen auf große Pointen zu.

Donald Antrim: Das smaragdene Licht in der Luft. Rowohlt, 222 Seiten, 19,50 Euro.

Das Nicht-aufgeben-Wollen in China

Ma Jian schreibt in ihrem Roman „Die Dunkle Straße“ über jene, die beim Aufbruch Chinas in neue Zeiten auf der Strecke bleiben. Ein Paar möchte ein zweites Kind haben - trotz Einkindpolitik - und taucht unter in der Welt der Tagelöhner, die den Schattenseiten der Industrialisierung ausgeliefert sind: Ausbeutung, Umweltverschmutzung, Marginalisierung. Dennoch ist es besonders der kämpferische Gestus, das Nicht-aufgeben-Wollen, das an den Protagonisten des fulminanten Romans besonders beeindruckt. Ein Porträt Chinas, ein Sozialdrama, ein Gesellschaftsroman.

Ma Jian: Die dunkle Straße. Rowohlt, 496 Seiten, 25,70 Euro.

Bücher

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Erstlingswerk eines Meisters

Mit „Jäger“ („The Hunters“) hat der große US-Erzähler James Salter in den 50ern seine literarische Karriere begonnen. In dem Roman über den Korea-Krieg, sprachlich das erste Zeugnis von Salters großer Kunst, inhaltlich heute durchaus ambivalent zu lesen, begegnet man bereits den Motiven in seinem Erzählwerk: existenzielle Einsamkeit und deren Überwindung, Streben nach Sinn und Besonderheit - hier in der Rivalität von Kampfpiloten, wie Salter selbst einer war.

James Salter: Jäger. Berlin Verlag, 304 Seiten, 20,60 Euro.

Zwischen banal und brachial

Ist es Literatur oder nur eine Ansammlung derber Witze und banaler Facebook-Statusmeldungen? Stefanie Sargnagel, die Lena Dunham von Wien, spaltet die Kritiker und hat die hiesige Literaturszene mit ihrem zweiten Buch „Fitness“ aufgemischt. Ihre Randnotizen aus dem Leben eines – wie sie sich selbst bezeichnet – „Subkultur-It-Girls“ lesen sich wie folgt: „21.2.2014: Ich glaub, ich lass mich jetzt vom nächsten notgeilen Alki schwängern und werde zur sicksten Mami-Bloggerin ever.“ Wer kein gewöhnliches Buch zu Weihnachten verschenken will, könnte den Gabentisch mit diesem brachialen Stück österreichischer Gegenwartsliteratur aufpeppen.

Stefanie Sargnagel: Fitness. Redelsteiner dahimene edition, 292 Seiten, 16,90 Euro.

Franzen korrigiert die Welt

Pip, die Unschuld vom Lande, zieht in ein besetztes Haus. Aber Jonathan Franzen stellt in seinem jüngsten Roman keine Fassaden auf, die er nicht später wieder zertrümmert. Ein Datenjäger in WikiLeaks-Manier wird bei ihm zum Wolf im Schafspelz. Und die Neurosen von Pips geliebter Mutter haben ihren Ursprung in einem dunklen Geheimnis. Franzen räsoniert über die Unmöglichkeit moralischer Unversehrtheit in einer moralisch versehrten Welt. „Unschuld“ ist ein breit angelegter Gesellschaftsroman, wie ihn Franzen-Fans seit den „Korrekturen“ lieben.

Jonathan Franzen: Unschuld. Rowohlt, 832 Seiten, 27,80 Euro.

Cops und die Geister der Vergangenheit

Richard Price hat die Romanvorlage zur knochentrockenen und realistischen Polizeiserie „The Wire“ geschrieben. Jahrelang hatte er die Polizei bei ihrer Alltagsarbeit im nervenaufreibenden und sinnlosen Krieg gegen Drogen begleitet. Daraus sind neben „The Wire“ auch andere Bücher entstanden. Nun erschien auf Deutsch „Die Unantastbaren“. Price beschreibt darin, was passiert, wenn ein korrupter und brutaler Polizeitrupp von den Geistern der Vergangenheit eingeholt wird. Hart, lapidar - und lesenswert.

Richard Price: Die Unantastbaren. S. Fischer, 432 Seiten, 25,70 Euro.

Zusammenhalt und Bescheidenheit

Pierre und der kleine Marcus, die beiden sind schon bald ein eingespieltes Team. „So etwas wie Familie“ eben, was auch der Titel von Pierre Chazals Romandebüt ist. Drogenmilieu würden Sozialwissenschaftler wohl sagen, oder Subproletariat. Aber Chazal erzählt eine Geschichte von Zusammenhalt, von Bescheidenheit. Von Pierre, der Marcus bei sich aufnimmt, nachdem dessen Mutter an einer Überdosis gestorben ist. Und wie ein ganzer Freundeskreis mit seiner verkorksten Vergangenheit umgeht, allesamt Gefallene und große Charaktere. Doch das Schicksal verschont Pierre und Marcus nicht. Chazal erzählt seine Geschichte in leisen Tönen, unaufdringlich, mit viel Herzenswärme, in wundervoller Sprache.

Pierre Chazal: So etwas wie Familie. Deuticke, 240 Seiten, 19,50 Euro.

Liebe in Zeiten der Wirtschaftskrise

Marilynne Robinson gilt als eine der bedeutendsten amerikanischen Autorinnen, sie ist die Lieblingsschriftstellerin von US-Präsident Obama – im deutschsprachigen Raum hat man sie erst jetzt entdeckt. Die Wanderarbeiterin Lila wird sesshaft, heiratet einen viel älteren Prediger und hat ein Kind mit ihm. Rückblicke erzählen von ihrer harten Kindheit und Jugend während der Jahre der Depression, die sie mit umherziehenden Tagelöhnern verbringt. Ein feinfühliges Porträt einer untergegangenen Gesellschaft, das von Existenzkampf, Glauben und Einsamkeit erzählt.

Marilynne Robinson: Lila. S. Fischer, 288 Seiten, 22,70 Euro.

Western pur - in Tarantino-Manier

Wenn es so etwas wie das Fach der „Hardboiled Western“ gibt, dann würde man im Film Quentin Tarantino mit seinem „Django Unchained“ dazuzählen - und in der Literatur den auf Deutsch in der Reihe Heyne Hardcore am 11. Jänner erscheinenden Roman Clifford Jackmans: „Winter Family“. Es geht dabei um eine Gruppe Renegaten aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg, die marodierend durch die Lande ziehen - allerdings nicht wahl- und ziellos. Immer geht es um den eigenen Vorteil, um Geld und darum, dem zu dienen, der gerade am besten zahlt. Spannend, brutal und Western pur. Wer bis Jänner nicht mehr warten kann - im englischen Original gibt es das Buch selbstverständlich bereits.

Clifford Jackman: Winter Family. Heyne, 512 Seiten, 15,50 Euro.

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Urszene zur Potenz

Mitte der 70er Jahre wachsen in einer US-Kleinstadt die vier Kinder von Roz und Paul Mellow recht unbeschwert auf - bis ihnen zufällig ein Buch in die Hände fällt. Nicht irgendein Buch, sondern ein Sexratgeber, den ihre eigenen Eltern geschrieben haben und in dem sie in vielen freizügigen Illustrationen demonstrieren, wie die „Reise eines Paares zur Erfüllung“ zu bewerkstelligen ist. Jahre später setzen sich die erwachsen gewordenen Kinder mit dieser „Urszene zur Potenz“ auseinander - und mit den Auswirkungen auf ihre eigene Sexualität und ihr Gefühlsleben.

Meg Wolitzer: Die Stellung. DuMont, 368 Seiten, 20,60 Euro.

Lebensglück in der Todeszone von Tschernobyl

Stur und lebensklug zeichnet Alina Bronsky ihre liebenswerte Figur des Mütterchens Baba Dunja. Die Alte kehrt als Erste ins verwaiste Dorf Tschernowo in der Todeszone von Tschernobyl zurück, andere folgen. Die Heimkehrerin erzählt von einer untergegangenen Welt, in der sich aus den anfänglich „nebenher“ lebenden Menschen langsam eine Gemeinschaft formt. Im Dörfchen singen nicht nur die verstrahlten Vögel lauter als anderswo, auch die Spinnen weben seltsame Netze. Als ein Fremder mit einem Kind auftaucht, ändert sich die Lage, das beschauliche Dorfleben wird gestört. Poetisch und mit viel Witz gelingt es Bronsky, eine immer noch aktuelle, doch etwas vergessene Geschichte zu erzählen.

Alina Bronsky: Baba Dunjas letzte Liebe. Kiepenheuer & Witsch, 160 Seiten, 16,50 Euro.

Bittersüßer Roadtrip

Nach einem Schicksalsschlag versucht Benjamin Benjamin zurück ins Leben zu finden. Um seine finanzielle Situation zu verbessern, wird er der Pfleger von Trev. Der ist jung, unheilbar krank und wurde gleich nach der tödlichen Diagnose von seinem Vater verlassen. Als der Rabenvater verunfallt, machen sich die beiden im Auto auf den Weg zu ihm. Gemeinsam mit den Anhalterinnen Dot und der hochschwangeren Peaches wird die Fahrt für alle Beteiligten zu einer Herausforderung, an deren Ende sich manches aufklärt. Das Buch ist ein Roadtrip entlang der Stationen eines jungen, gefährdeten und gefährlichen Lebens.

Jonathan Evison: Umweg nach Hause. Kiepenheuer & Witsch, 384 Seiten, 20,60 Euro.

Sozialer Rückzug

Ianina Ilitcheva dokumentiert in ihrem Erstlingswerk in kurzen handschriftlichen Notizen, Selbstporträts, Zeichnungen und Fotos ihren Rückzug aus dem sozialen Leben. Der Kontakt zu Freunden und Bekannten wird nahezu eingestellt, nur einmal im Monat sendet sie eine E-Mail an die Außenwelt. Während der Suche nach ihrem schöpferischen Potenzial gerät der eigentliche Fahrplan durcheinander. Durch zwei einschneidende Erlebnisse wird sie an die Ränder des gerade noch zu ertragenden Alleinseins gedrängt. Ilitcheva ist ein poetisch-kunstvolles Kaleidoskop aus Bild und Text gelungen, das in der neu ins Leben gerufenen literarischen Reihe des Verlags Kremayr & Scheriau erschienen ist.

Ianina Ilitcheva: 183 Tage. Kremayr & Scheriau, 256 Seiten, 29,90 Euro.

Alltag im „Kinderland“

„Kinderland“ - so lautet der Originaltitel des vielgelobten Romans der Schriftstellerin Liliana Corobca. Mit „Kinderland“ meint Corobca ihre Heimat Moldawien, in der immer mehr Eltern ihre Kinder alleine zurücklassen, weil sie nur im Ausland Arbeit finden. In „Der erste Horizont meines Lebens“, so der Titel der deutschen Ausgabe, schuf Corobca mit der zwölfjährigen Cristina eine ebenso kraftvolle wie fragile Hauptfigur. Cristinas Mutter betreut fremde Kinder in Italien, der Vater fand Arbeit in Sibirien. An die 100.000 Kinder in Moldawien geht es wie Cristina und ihren beiden kleinen Brüdern.

Liliana Corobca: Der erste Horizont meines Lebens. Zsolnay, 192 Seiten, 19,50 Euro.

Reigen um Revolution, Bespitzelung und Liebe

Frühling 2011, Baku, Aserbaidschan: Zwei Paare, Nino und Ali sowie Frida und Che, teilen eine Wohnung und ähnliche politische Ansichten. Als in der Stadt Proteste gegen das autoritäre Regime laut werden, lehnen sie sich folgenschwer gegen die Unterdrückung auf. Die Schatten ihrer Verfolger dringen bis in die gemeinsame Wohnung, in der so manches Notizbuch oder Kleidungsstück durch fremde Hände bewegt scheint. „und wir fürchten die klingel, fürchten das klopfen auf holz, wir fürchten das telefon und das rascheln – und es klingelt und klopft, es läutet und raschelt in unsere träume hinein.“ Verena Mermer setzt mit ihrem Romandebüt den niedergeschlagenen Protesten in Aserbaidschan ein Denkmal.

Verena Mermer: die stimme über den dächern. Residenz, 160 Seiten, 19,90 Euro.

Die wunderbare Welt des Guylain Vignolles

Guylain Vignolles ist ein liebenswerter Eigenbrötler, der Bücher liebt. Seine Arbeit in der Papiervernichtungsfabrik ist ihm verhasst. Jeden Tag entwendet er der Schreddermaschine einige Blätter, die er während der Anfahrt zur Firma im Zug laut vorliest. Als ihm eines Tages ein USB-Stick vor die Füße fällt, auf dem das Tagebuch einer jungen Frau gespeichert ist, ändert sich sein bisher grauer Alltag. Er beginnt nun die mit Julie unterzeichneten Texte vorzutragen, in der Hoffnung, so die Verfasserin zu finden. Als das nicht gelingt, macht sich Guylain unter Mithilfe seines beinlosen Freundes auf die Suche nach ihr.

Jean-Paul Didierlaurent: Die Sehnsucht des Vorlesers. Dtv, 224 Seiten, 15,10 Euro.

Poetisch schräger Erzählband

Irmgard Fuchs entwirft in ihrem neun Erzählungen umfassenden Debüt eine Reihe an schrägen Protagonisten mit skurriler Gedankenwelt. Die Zweifel an der eigenen Daseinsberechtigung der Figuren bringt die junge Autorin in kleinen, fein sezierten Alltagsszenen zum Ausdruck. Während eine weibliche Aufsichtsperson in schlecht sitzender Uniform die Karten der Theaterbesucher entwertet, verfährt sie mit sich selbst in ähnlicher Weise: „Um mich nicht dem Gefühl der Überflüssigkeit zu überlassen, habe ich mich daran gewöhnt, innerlich taub zu sein und mich wie ein glänzendes Polyestermöbel zu fühlen.“

Irmgard Fuchs: Wir zerschneiden die Schwerkraft. Kremayr & Scheriau, 208 Seiten, 19,90 Euro.

Sinnsuche als Gewaltakt gegen sich selbst

In „Auerhaus“ erzählt Bov Bjerg die Geschichte einer Gruppe von Freunden, die ihren Abschluss an einem Provinzgymnasium machen. Wer den Sinn seines Lebens nicht darin sieht, einfach das der Eltern zu kopieren, wird hart mit sich selbst konfrontiert. Einer der Freunde zerbricht daran, unternimmt einen Suizidversuch, überlebt. Die Gruppe zieht mit ihm in ein altes Bauernhaus - doch im Freiraum „Auerhaus“ tauchen neue Gefahren auf. Die Handlung des Romans spielt in den späten 1980ern, doch Bjergs präzise Sprache enthebt die Handlung ihrer Zeit, verdichtet sie zur gültigen Parabel über den Umgang mit der Unsicherheit, die uns so oft zu umgeben scheint.

Bov Bjerg: Auerhaus. Blumenbar, 240 Seiten, 18,50 Euro.

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Im Büro verschollen

Jens Jansen ist einer von vielen, Tag für Tag gefangen in einem riesigen Bürokomplex lebt er den absoluten Durchschnitt. Als der Wunsch zu verschwinden immer größer wird, schlüpft er in die Rolle eines Ninjas und versteckt sich fortan in einem Abstellraum seiner Firma. Als er beginnt, seine Kollegen auszuspionieren, dem pausbackigen Dunklen Ritter begegnet, und von Softopia erfährt, gerät seine gewohnte Welt ins Wanken. Lars Berge verspottet in seinem Romandebüt die moderne Arbeitswelt mit ebenso viel Witz wie Fantasie.

Lars Berge: Der Büro-Ninja. Carl’s Books, 256 Seiten, 14,99 Euro.

Ein Buch versucht den Hypertext

Beigelegt sind „S. - Das Schiff des Theseus“ an bestimmten Textstellen handgeschriebene Briefe, Postkarten und Notizzettel - alles zum Ausbreiten auf einen im Idealfall riesigen Tisch. Zusätzlich ist das Buch vollgekritzelt mit Anmerkungen. Dem Leser erschließt sich nach und nach durch diese „Holz“-Variante des Hypertextes eine unglaubliche Geschichte. Mit einem gefakten Roman von 1949 als Ausgangsbasis versuchten die beiden Autoren J. J. Abrams (bekannt durch TV-Serien wie etwa „Alias“ und „Lost“ und als Regisseur der jüngsten „Star Trek“- und „Star Wars“-Episoden) und Doug Dorst, moderne, digitale Erzählmodelle, wie User sie durch Verlinkungen im Netz seit Langem gewohnt sind, auf ein Buch umzulegen.

J. J. Abrams und Doug Dorst: S. - Das Schiff des Theseus. Kiepenheuer & Witsch, 544 Seiten, 46,30 Euro.

Absurdes Sowjet-Kaleidoskop

Der Haymon Verlag vollendet mit „Die Kugel auf dem Weg zum Helden“ Andrei Kurkows Trilogie „Geografie eines einzelnen Schusses“. Kurkow entwirft darin ein Kaleidoskop der Sowjet-Gesellschaft, gnadenlos und dennoch nicht trist. Der Autor spielt mit Absurditäten, ähnlich wie sein ukrainischer Landsmann Juri Andruchowytsch. Kurkow geht jedoch weiter in die Tiefe und breitet sich episch aus. Der Text ist bei allem historischen Anspielungsreichtum und trotz seiner gedrechselten Struktur leicht und unterhaltsam zu lesen.

Andrei Kurkow: Die Kugel auf dem Weg zum Helden. Haymon Verlag, 387 Seiten, 22,90 Euro.

Die stille Reue eines Kriegshelden

Jan Koneffkes „Ein Sonntagskind“ ist der dritte Band einer Familientrilogie, in der der Autor seine eigene Familiengeschichte fiktional verfremdet darstellt. Tief beeindruckt zeigt sich das deutsche Feuilleton über diesen tiefsinnigen Geschichts- und Vergangenheitsbewältigungsroman. Der linksliberale, sakrosankte Vater gerät als Symbolfigur ins Wanken, als sein Sohn dessen kriegsbegeisterte Briefe aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs findet. Nach einer Phase der Reue wurde der Vater nach dem Krieg Philosophieprofessor - ausgerechnet mit dem Spezialgebiet Ethik. Aber über seine Zeit als Kriegsheld schwieg er dabei.

Jan Koneffke: Ein Sonntagskind. Galiani, 592 Seiten, 25,70 Euro.

Weihnachten mit der „Famiglia“

Die 23-jährige Zahnarzthelferin Anna Maiotti lebt mit ihrer deutsch-italienischen Familie in einem Dreigenerationenhaushalt in Nürnberg. Nonna und Nonno, Mama und Babbo und ihre kleine Schwester Maura halten sie während der Feiertage ganz schön auf Trab. Als dann auch noch ihr Patensohn Ugolino verschwindet, droht das Fest ins Wasser zu fallen. Doch dann kommt alles ganz anders. Sprichwörter leiten jedes Kapitel ein, das Kochbuch der Familie Maiotti bildet den Anhang. Eine unterhaltsame Lektüre, ganz besonders zur Weihnachtszeit.

Astrida Wallat: Pikkolo und Panettone. Famiglia Maiotti tischt auf. Atlantik, 288 Seiten, 14,99 Euro.

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Odyssee durch den Terroruntergrund

Ein junger Deutscher wird in London Zeuge eines Bombenanschlags. Er sucht Schutz in einer Fotokabine, die er mit einer Unbekannten teilt. Sie wiederzufinden wird zum Ziel seines Treibens durch die Stadt. Dabei gerät er an einen jungen Marokkaner, von dem er sich Hilfe verspricht - würde dieser nicht unvermutet verhaftet werden, und sich der Romanheld unversehens mit Falschnamen und einer attraktiven Helferin an der Seite auf der Flucht befinden. Die Themen Terrorismus, Finanzkrise und soziale Ungleichheit liefern den Hintergrund für das spannungsgeladene Romandebüt „Das Loch in der Musik“ des Wahlwieners Markus Ruf.

Markus Ruf: Das Loch in der Musik. Zaglossus, 267 Seiten, 17,95 Euro.

Verstörende Schrulligkeit

Cheryl ist Mitte 40, arbeitet in einer gemeinnützigen Organisation, ist unglücklich verliebt und lebt nach strengen, selbst aufgestellten Regeln, die von Seite zu Seite immer neurotischer anmuten und einschränkender werden. Als sie sich mit ihren Zwängen und Leiden beinahe abgefunden hat, tritt die 20-jährige Clee in ihr Leben, zieht bei ihr ein und begegnet ihr vom ersten Tag ihres Zusammenlebens an mit Boshaftigkeit und Gewalt. Verstörend wie tröstlich erzählt Miranda July hier die Geschichte zweier Frauen, die unterschiedlicher nicht sein könnten.

Miranda July: Der erste fiese Typ. Kiepenheuer & Witsch, 336 Seiten, 19,99 Euro.

Eine Ente und die Lebensfragen

Die kleine Ente, am Weihnachtsabend aus ihrem Ei geschlüpft, hält einen Pantoffel, in den sie zufällig geraten ist, für ihre Mutter. Ist sie also auch ein Pantoffel? Sie macht sich auf den Weg, begegnet allerlei Getier, wohnt bei Bibern, Fledermäusen und Flamingos. Mehr sei nicht verraten. Erzählt mit schwebender Leichtigkeit, voller unerwarteter Wendungen, komischer, aber auch anrührender Episoden stellt dieses philosophische Märchen die Frage, was Identität und Zugehörigkeit bedeuten.

Paola Mastrocola: Ich dachte, ich wär ein Panther. Die Geschichte einer Ente auf der Suche nach sich selbst. Piper, 198 Seiten, 7,95 Euro.

Flucht und Exil - im 20. Jahrhundert

David Leavitt lässt zwei Paare im Lissabon des Jahres 1940 aufeinander und ineinander krachen. So wie Abertausende andere hoffen sie auf die ersehnte Überfahrt in die USA. Es bleibt wenig zu tun - und viel zu fühlen. Edwin Möser wiederum folgt in seinem Roman einer europäischen Familie auf ihrer abenteuerlichen Zeitreise durch das 20. Jahrhundert. Es ist eine Geschichte von irrwitziger Abenteuerlust. Drehscheibe ist hier aber nicht Portugal, sondern Uruguay.

David Leavitt: Späte Einsichten. Hoffmann und Campe, 303 Seiten, 20,60 Euro.

Edwin Möser: Drehscheibe Montevideo. Die Zeitreise einer europäischen Familie. Edition Ausblick, 376 Seiten, 24 Euro, zu bestellen beim Verlag.

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ORF.at/Thomas Hangweyrer

Klassiker, neu übersetzt

Es gibt heuer außerdem durchwegs feine Neuübersetzungen. Zeit, Klassiker wiederzuentdecken: Jack Londons „Lockruf des Goldes“ (Lutz-W. Wolff), William Faulkners „Absolom, Absolom!“ (Nikolas Stingl) und Charlotte Brontes „Jane Eyre“ (Melanie Walz). Erstmals kann man sich auch auf Deutsch mit F. Scott Fitzgerald auf einen aberwitzigen und dennoch autobiografischen Roadtrip durch die USA machen. Zwar nicht neu übersetzt, aber fein und handlich in einem Taschenbuch zusammengefasst: H. P. Lovecrafts „Horror Stories“.

Jack London: Lockruf des Goldes. Neu übersetzt von Lutz W. Wolff. Dtv, 415 Seiten, 13,30 Euro.

William Faulkner: Absalom, Absalom! Neu übersetzt von Nikolaus Stingl. Rowohlt, 478 Seiten, 25,70 Euro.

Charlotte Bronte: Jane Eyre. Neu übersetzt von Melanie Walz. Insel, 653 Seiten, 30,80 Euro.

F. Scott Fitzgerald: Die Straße der Pfirsiche. Aufbau, 157 Seiten, 17,50 Euro.

H. P. Lovecraft: Horror Stories. Suhrkamp, 519 Seiten, zwölf Euro.

Simon Hadler, Lena Eich, Carola Leitner, Johanna Grillmayer, Romana Beer, Georg Filzmoser, Günter Hack, Sonia Neufeld, Peter Bauer, Doris Manola, alle ORF.at

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