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Die Brüsseler Gleichung

Rechtlich und auch politisch ist die Europäische Union weder ein Staatenbund, bei dem alle Souveränitätsrechte auf nationaler Ebene verbleiben, noch eine echte Föderation von Bundesstaaten wie etwa die USA - sondern etwas dazwischen.

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Diese ungewöhnliche Mischung zieht auch eine orginelle Aufgabenverteilung nach sich. Die Kommission hat im Machtdreieck mit Parlament und Rat de facto die Funktion einer Regierung inne. Tatsächlich hat sie als einzige der drei EU-Institutionen (Kommission, Parlament und Rat - Letzterer vertritt die Interessen der Regierungen der 28 Mitgliedsländer) das sogenannte Initiativrecht - also das Recht, Gesetzesvorschläge zu machen. Der Rat und das Parlament sind formell auf die Rolle der Beschlussfasser reduziert.

Theorie vs. Praxis

Freilich ist die Realität eine andere - die Kommission folgt sehr oft „Zurufen“ vor allem des Rats, die etwa in Form von Schlussfolgerungen von Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs erfolgen. Auch das Parlament hat eine Petitionsmöglichkeit: In Form von Initiativanträgen kann es die Kommission auffordern, einen Gesetzesvorschlag zu einem bestimmten Thema vorzulegen. Dass das deutlich seltener zu Gesetzesvorschlägen führt, zeigt klar, wo auch heute noch das Machtzentrum in der EU liegt: im Justus-Lipsius-Gebäude des Rats - vis-a-vis von der Zentrale der Kommission (benannt nach dem früher an der Stelle befindlichen Frauenkloster, Anm.). Auch EU-Bürger können mithilfe einer EU-Bürgerinitiative die Kommission zum Handeln auffordern.

Eine Regierung im eigentlichen Sinn gibt es nicht, die Kompetenzen sind - vereinfacht gesagt - zwischen Kommission und Mitgliedsstaaten verteilt. Auch das Parlament funktioniert nach etwas anderen Regeln als nationale Parlamente. Es hat nominell deutlich weniger Rechte, obwohl es in den letzten Jahren, insbesondere durch den Vertrag von Lissabon (2009), stark aufgewertet wurde.

Wendepunkt Lissabon

Seit Lissabon - darin wurden nach dem Scheitern der EU-Verfassung durch Referenden in Frankreich und Niederlande (2005) - die Grundlagen für die EU neu geregelt, hat das EU-Parlament ein Vetorecht beim EU-Budget und ist zum Teil gleichberechtigter Mitentscheider mit dem Rat. Dieser Prozess heißt „ordentliches Gesetzgebungsverfahren“ und gilt in der Mehrzahl der Politikbereiche (auf nationaler Ebene würde man von Ressorts sprechen). Vor allem die Agrarpolitik (der mit Abstand größte Brocken im EU-Budget) und die Polizei- und Justizzusammenarbeit in Strafsachen wurde damit verstärkt vergemeinschaftet. Außen- und Sicherheitspolitik dagegen sind weiterhin die alleinige Domäne der Nationalstaaten.

Beim EU-Haushalt hat das Parlament seit Lissabon ausgabenseitig das finale Wort. Die Letztentscheidung über die Einnahmen liegt aber weiter bei den Mitgliedsländern: Nur sie können das EU-Budget erhöhen oder neue EU-Steuern einführen.

Entscheidende Marke Juncker-Wahl

Ein zumindest symbolischer Machtgewinn für das EU-Parlament, der aber langfristig das Kraftverhältnis weiter ein Stück weit verändern könnte, war sicher die Direktwahl des EU-Kommissionspräsidenten nach der letzten Europawahl. Vor allem war wichtig, dass die Mitgliedsländer - insbesondere Deutschland mit Kanzlerin Angela Merkel - sich auch nach der Wahl dem siegreichen Spitzenkandidaten verpflichtet fühlten, dem nunmehrigen christdemokratischen Präsidenten, Jean-Claude Juncker.

Die Direktwahl des Kommissionspräsidenten durch das Parlament hat zugleich Kommission und Abgeordnetenhaus näher aneinander gerückt. Juncker wiederum versucht - mit grundsätzlicher Billigung des Parlaments - aus dem engen Korsett auszubrechen, das stets besagte, dass die Kommission nur technokratisch sein dürfe und jedes politische Mandat bei den anderen beiden Institutionen liege.

Spannende Bewegung

Juncker versteht sich und seine Kommission ganz bewusst als politische Institution und versucht daher bei wichtigen Themen wie der Flüchtlingskrise und den bevorstehenden Verhandlungen mit Großbritannien im Vorfeld des „Brexit“-Referendums ganz gezielt mit politischen Vorgaben zu punkten: mit noch nicht absehbaren Folgen für das Funktionieren des Brüsseler Machtdreiecks.

Guido Tiefenthaler, ORF.at, aus Brüssel

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