„Ordentlich“ mehr Macht
Das Gesetzgebungsverfahren in der EU ist grundsätzlich an jenes in demokratischen Nationalstaaten wie Österreich angelehnt. Aufgrund des weltweit einzigartigen Status der EU weist der Entscheidungsprozess aber mehrere Besonderheiten auf - etwa, dass es zwei Verfahren gibt, wie Gesetze beschlossen werden, und dazu noch den Sonderfall Rechtsakte.
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Seit dem Vertrag von Lissabon, der nach jahrelangen Verhandlungen 2009 in Kraft trat, hat das EU-Parlament ein Vetorecht beim EU-Budget und ist teilweise gleichberechtigter Mitentscheider mit dem Rat.
Dieser Prozess heißt „ordentliches Gesetzgebungsverfahren“ und gilt in der Mehrzahl der Politikbereiche (auf nationaler Ebene würde man von Ressorts sprechen). Vor allem die Agrarpolitik - der mit Abstand größte Brocken im EU-Budget - und die Polizei- und Justizzusammenarbeit in Strafsachen wurden damit verstärkt vergemeinschaftet. Außen- und Sicherheitspolitik dagegen sind weiterhin die alleinige Domäne der Nationalstaaten.
Geteiltes letztes Wort
Beim EU-Haushalt hat das Parlament seit Lissabon ausgabenseitig das finale Wort. Die Letztentscheidung über die Einnahmen liegt aber weiter bei den Mitgliedsländern: Nur sie können das EU-Budget erhöhen oder neue EU-Steuern einführen.
Lissabon statt Nizza
Der Lissabonner Vertrag ist der - abgeschwächte - Ersatz für die EU-Verfassung von Nizza. Diese war 2005 durch Referenden in Frankreich und den Niederlanden zu Fall gebracht worden. Im Lissabonmer Vertrag werden die Grundlagen der EU neu geregelt.
Es braucht zwei
Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren richtet sich nach Art. 294 AEU-Vertrag (Vertrag über die Arbeitsweise der EU) und kann bis zu drei Lesungen umfassen. Der Gesetzesvorschlag der Kommission muss zunächst vom Parlament behandelt und dort abgestimmt werden. Nimmt das Parlament den Vorschlag mit absoluter Mehrheit an, geht er in den EU-Rat weiter. Wenn dieser den Entwurf mit qualifizierter Mehrheit (das sind 16 von 28 Staaten, die zusammen mindestens 65 Prozent der Bevölkerung der Union ausmachen, Anm.) annimmt, ist das Gesetz in erster Lesung beschlossen und kann in Kraft treten. Das Parlament kann auch für Änderungsanträge stimmen - werden diese vom Rat angenommen, gilt das Gesetz ebenfalls als beschlossen.
Sind die Mitgliedsländer mit der Position des Parlaments aber nicht einverstanden, so lehnen sie diese ihrerseits in erster Lesung ab und formulieren eigene Standpunkte - und der Ball geht für die zweite Runde an das Parlament zurück.
Drei Möglichkeiten
Dort muss - nun mit einer Zeitfrist von drei Monaten - der Vorschlag des Rats mit einfacher Mehrheit angenommen werden. Äußert sich das Parlament innerhalb von drei Monaten nicht, gilt das Gesetz - mit den Änderungen des Rats - ebenfalls als angenommen. Wird der Änderungsvorschlag des Rats mit absoluter Mehrheit abgelehnt, ist das Gesetzesvorhaben gescheitert. Dritte Variante in Phase zwei: Das Parlament beschließt seinerseits mit absoluter Mehrheit neue Abänderungsanträge zum Ratsentwurf - und spielt den Ball an die Mitgliedsläner zurück.
In diesem Fall beginnt die zweite Lesung im Rat - auch hier gilt nun ein Dreimonatszeitlimit. Wie das Parlament hat auch der Rat drei Möglichkeiten: ohne Änderungen annehmen (damit ist das Gesetz beschlossen), ablehnen (Gesetz ist gescheitert) oder keinen Beschluss fassen. In letzterem Fall wird dann ein Vermittlungsverfahren in Gang gesetzt - auch Trilog genannt.
![© Grafik: ORF.at/Kaja Stepien Grafik zur EU-Gesetzgebung](../../../static/images/site/news/20150835/eu_gesetze_o.4637825.png)
Grafik: ORF.at/Kaja Stepien
Nicht in EU: „Alle guten Dinge sind drei“
Im formellen Trilog sitzen 28 Parlamentarier und je ein Vertreter jedes Mitgliedslandes einander gegenüber. Die Komission nimmt als Beobachter an den Verhandlungen teil, die binnen sechs Wochen abgeschlossen werden müssen. De facto wirkt die Kommission hierbei aber immer wieder auch als Vermittler. Eine Trilog-Eingung muss nochmals im Plenum des Parlaments und im Rat - in dann dritter Lesung - abgestimmt werden. Finden die 56 Verhandler keinen Kompromiss, so ist das Gesetzesvorhaben endgültig gescheitert.
Einzige dann noch verbliebene Möglichkeit: Die Kommission legt - realistischerweise nach einer längeren Pause - einen grundlegend überarbeiteten Vorschlag vor, und dann beginnt das ordentliche Gesetzgebungsverfahren wieder von vorne.
Es kommt allerdings selten vor, dass das Gesetzgebungsverfahren bis in diese letzte Stufe gelangt. Meist gibt es zuvor eine Einigung, oder die Sache wird in der ersten Lesung - hier gibt es kein Zeitlimit - in die Länge gezogen. Noch seltener ist das Scheitern eines solchen Vermittlungsverfahrens, also des formellen Trilogs.
Weniger „ordentliche“ Alternativen
In einigen Ausnahmefällen haben sich die Mitgliedsstaaten das alleinige Entscheidungsrecht vorbehalten: Beim sogenannten außerordentlichen Gesetzgebungsverfahren entscheidet der Rat alleine über einen Vorschlag der Kommission. Das Parlament darf seine Meinung abgeben, hat aber nichts mitzureden.
Ein dritter Spezialfall sind „Rechtsakte ohne Gesetzescharakter“. Darunter versteht man einerseits „delegierte Rechtsakte“ und andererseits „Durchführungsrechtsakte“. Was technokratisch klingt, hat einen durchaus sinnvollen Hintergrund: Damit sollen bestehende Regeln den aktuellen Erfordernissen angepasst werden können, ohne die Gesetzesflut weiter anschwellen zu lassen. Bereits in jedem Gesetz - etwa einer Richtlinie - wird dabei festgelegt, ob die Kommission Novellierungen in Form eines delegierten Rechtsakts oder einer Durchführungsbestimmung erlassen kann. Das ist wichtig, da nur bei einem delegierten Rechtsakt Parlament und Rat auch bei künftigen Novellierungen weiter eine Mitsprachemöglichkeit haben.
Guido Tiefenthaler, ORF.at, aus Brüssel
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