„Russland lässt uns keine andere Wahl“
Der Abschuss des Flugzeugs MH17 über der Ostukraine mit 298 Toten hat offenbar auch innerhalb der EU zu einem Wendepunkt in ihrer Position gegenüber Russland geführt. Erstmals scheinen sich alle EU-Mitglieder über Wirtschaftssanktionen gegen Moskau einig zu sein, wie Diplomaten bestätigen. Die Vorbereitungen dafür laufen derzeit auf Hochtouren. Viele Details sind aber noch offen.
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Bis Montag sollen Verordnungstexte für die Umsetzung der Sanktionen vorliegen. Spätestens am Dienstag sollen sie offiziell von den EU-Botschaftern gebilligt werden, sollte Russland bis dahin keine Bereitschaft zeigen, einzulenken. „Die Richtung ist sehr klar“, sagte die Sprecherin der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton am Freitag. „Aber wir sind noch nicht da.“
Steinmeier: Negative Folgen gemeinsam tragen
Harte Wirtschaftssanktionen gegen Russland würden auch für viele EU-Mitgliedsstaaten wirtschaftliche Schwierigkeiten mit sich bringen, denn Moskau ist ein wichtiger Handelspartner und Energielieferant. „Wenn es negative Folgen gibt, dann müssen sie auch in Europa insgesamt getragen werden“, forderte der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier.
Laut Diplomaten einigten sich die EU-Botschafter nun darauf, Russland den Zugang zu EU-Finanzmärkten zu erschweren. Zudem will die EU keine Hochtechnologieprodukte mehr liefern, Spezialanlagen zur Öl- und Gasförderung nur noch beschränkt. Hier steckt allerdings noch Klärungsbedarf, denn EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy etwa schlug den EU-Staaten vor, bei den geplanten Sanktionen den Gassektor auszunehmen und das angedachte Embargo für Technologielieferungen nur auf den Ölsektor zu fokussieren.
Stopp von Waffenlieferungen umsetzbar?
Auch ein - künftiges - Verbot von Waffenexporten wird diskutiert. Doch hier gebe es einige europäische Staaten, „die in ähnlicher Art und Weise rüstungswirtschaftliche Zusammenarbeit (wie Frankreich, Anm.) mit Russland nach wie vor betreiben und sich gern hinter dem französischen Beispiel verstecken“, kritisiert Steinmeier. Frankreich etwa will auf die Lieferung von Kriegsschiffen an Moskau nicht verzichten. Auch Großbritannien stoppte nicht alle Verträge für Waffenlieferungen.
Nicht zuletzt aufgrund des Widerstands von Paris war ein bisheriges Embargo von Rüstungsexporten nach Russland unmöglich. Ob es dazu tatsächlich eine breite Einigung innerhalb der EU gibt, ist fraglich. Wenn die EU es ernst meine, müsse sich das ändern, zeigte sich Steinmeier bestimmt. Deutschland stoppte die Lieferung eines bestellten Gefechtsübungszentrums für das russische Heer bereits vor einigen Wochen.
„Richtige Balance“
Ziel dieser Wirtschaftssanktionen ist, Moskau zu drängen, die Unterstützung für die Separatisten in der Ostukraine einzustellen. Steinmeier fordert jedenfalls rasche und vor allem schärfere Sanktionen gegen Moskau: „Nach dem Tod von 300 unschuldigen Menschen beim Absturz von MH17 und dem unwürdigen Treiben marodierender Soldateska an der Absturzstelle lässt uns das Verhalten Russlands keine andere Wahl“, sagte er im Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ (Samstag-Ausgabe). Van Rompuy hingegen lobte das geplante Sanktionspaket. Es treffe „die richtige Balance“ hinsichtlich des Verhältnisses von Kosten und Nutzen. „Es wird eine starke Wirkung auf Russland und nur mäßige Folgen für die europäische Wirtschaft haben“.
Moskau reagierte auf die geplanten Maßnahmen harsch. Weitere Sanktionen der EU gegen Russland könnten die Kooperation in Sicherheitsfragen behindern, warnte das russische Außenministerium am Samstag: „Die zusätzliche Sanktionsliste ist ein direkter Beweis, dass die EU die Weichen stellt, die Kooperation mit Russland in den Belangen der internationalen und regionalen Sicherheit nach unten zu fahren.“

Reuters/Maxim Shemetov
Auch gegen den tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadirow verhängt die EU Sanktionen, weil er die Annexion der Halbinsel Krim durch Russland befürwortete
Sanktionen auch gegen Kadirow
Die russische Reaktion bezieht sich damit auch auf die bereits in der Nacht zum Samstag veröffentlichte neue Sanktionsliste. Darunter sind nun neben den Chefs der russischen Inlands- und Auslandsgeheimdienste, Alexander Bortnikow und Michail Fradkow, auch andere Mitglieder des russischen Sicherheitsapparats sowie Unternehmen und Einrichtungen wie die selbst ernannten „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk. Den Vertretern des Sicherheitsapparats wird vorgeworfen, für den politischen Kurs Moskaus mitverantwortlich zu sein, der die „territoriale Integrität, die Souveränität und die Unabhängigkeit“ der Ukraine gefährde.
Ebenfalls mit Einreiseverboten und Kontosperren belegt wurde der tschetschenische Präsident Ramsan Kadirow. Dieser habe die „illegale Annexion“ der Schwarzmeer-Halbinsel Krim und den bewaffneten Aufstand gegen die Zentralregierung in Kiew befürwortet, lautete die Begründung im EU-Amtsblatt. Zudem hatte Kadirow vor wenigen Wochen angeboten, 74.000 tschetschenische Kämpfer in die Ukraine zu schicken. Bisher hatte die EU Einreiseverbote und Kontosperren gegen 87 Ukrainer und Russen verhängt. Nach Angaben von Diplomaten sollen in der kommenden Woche auch Oligarchen aus dem direkten Umfeld rund um den russischen Staatschef Wladimir Putin folgen.
Van Rompuy will Sondergipfel vermeiden
Zunächst war noch unklar, ob für den offiziellen Beschluss solcher Sanktionen ein Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs der EU einberufen wird. Den will Van Rompuy offenbar vermeiden. In einem Brief an die Staats- und Regierungschefs der EU bat er diese, persönlich die EU-Botschafter anzuweisen, den geplanten Maßnahmen zuzustimmen, berichtete die „Financial Times“.
Die Staats- und Regierungschefs hatten sich im März diese Entscheidung noch persönlich vorbehalten. Dafür wäre allerdings ein Sondergipfel vor dem für 30. August geplanten Treffen notwendig. Mit dieser von Van Rompuy gewünschten schriftlichen Variante fehle das politische Signal, das den Beschluss von Wirtschaftssanktionen begleiten müsse, hieß es unter EU-Diplomaten in Brüssel. „So kann es eigentlich nicht gehen. Besser ist, wir stehen wie ein Mann da.“
Deutsche Wirtschaft skeptisch
Steinmeier zeigte sich in einem Interview mit der „WirtschaftsWoche“ „überrascht“, dass die Sanktionen gegen Russland bereits wirken: „Kapital flieht seit Monaten aus Russland, die Konjunktur bekommt eine Delle, russische Unternehmen sind nervös.“ Auch Deutschlands Russland-Beauftragter Gernot Erler sieht im Ö1-Interview erste Signale, dass die Sanktionen zu wirken beginnen. Es seien erhebliche Probleme für die russische Volkswirtschaft entstanden - mehr dazu in oe1.ORF.at.
Mehr Bedenken gegenüber neuen Wirtschaftssanktionen äußerte hingegen die deutsche Wirtschaft. „Von allen EU-Ländern hat Deutschland den größten Warenaustausch mit Russland und wäre von den Sanktionen am stärksten betroffen“, warnt Eckhard Cordes, Vorsitzender des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft gegenüber dem Magazin „Focus“. Er rechnet mit einer scharfen Gegenreaktion von russischer Seite. Skepsis zeigte auch der Präsident des Verbands deutscher Maschinen- und Anlagenbauer (VDMA), Reinhold Festge: „Die Politik muss sich bei den Sanktionen genau fragen, welchen Schaden sie anrichten und ob sie überhaupt zum angestrebten Ziel führen.“
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