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Leise Töne vom Literaturschreck

Guillaume Nicloux’ bei der Berlinale präsentierter Film „L’enlevement de Michel Houellebecq“ wäre vermutlich nicht sehr originell, hieße sein Hauptdarsteller nicht Michel Houellebecq. Frankreichs Skandalschriftsteller Nummer eins war 2011 (im echten Leben) für einige Wochen unauffindbar, und die Gerüchteküche wollte es, dass er wahlweise der Al-Kaida oder Außerirdischen in die Hände gefallen sei.

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Das war in der Pariser Literaturszene nicht für jeden ein unerträglicher Gedanke. Doch dann tauchte Houellebecq, der gar nichts dagegen hat, sich mit seinen Büchern immer neue Feinde zu machen, wieder auf. Der vertrackt komische und selbstironische Film, der zur Berlinale zu sehen war, legt nahe, wie es gewesen sein könnte: Drei eher gut meinende Gangster mit vielen Muskeln, aber begrenztem Denkvermögen haben den Dichter in einer Kiste aus seiner Wohnung entführt und erwarten sich eine Menge Lösegeld für seine Freilassung.

Schmächtig, in schlotternden Kleidern

Betont kunstlos und in pixeligen Bildern zeigt Nicloux (im Wettbewerb 2013 mit seiner Diderot-Verfilmung „Die Nonne“ vertreten) nun, wie es Houellebecq in seiner unfreiwilligen Behausung in einem desolaten Pariser Vorort so geht. Ein schmächtiger Mann in schlotternden Kleidern, der Körper vollkommen spannungslos, so schaut Houellebecq mit seinem Schildkrötengesicht aus unendlich traurigen Augen auf die drei Möchtegern-Gangster.

Er fühlt sich gar nicht einmal unwohl, bloß rauchen will er immerzu, und Wein und Schnaps sollten auch nicht fehlen. Lesen will er auch, solange das Lösegeld noch nicht eingetroffen ist. Und - „nein danke, kein Porno!“ - eine Prostituierte wäre gut, um sich die langen Nächte zu verkürzen.

Französischer Schriftsteller Michel Houellebecq

APA/EPA/Tamas Kovacs

Houellebecq bezeichnet sich selbst als autistisch

Freundliche Kommentare zu seinen schauspielerischen Fähigkeiten bekam Houellebecq nach der Vorführung bei der Berlinale, viele Lacher gab es schon währenddessen im Publikum für die Art und Weise, wie Houellebecq seinen Entführern lästig ist: als ein trotziges Kind, das ihnen auch noch erklärt, wie Literatur funktioniert. Wie viel Houellebecq steckt in der Figur Houellebecq, die der Schriftsteller da verkörpert?

Warten auf Houellebecq

Um ihn das zu fragen, muss man als Journalist bei der Berlinale lange warten. Der erste Interviewtermin platzt, beim zweiten Versuch lässt er auf sich warten, doch irgendwann kommt der 57-jährige Houellebecq ins Zimmer geschlurft und lässt sich in einen Sessel fallen: in Jeans, einem zu weiten Hemd, das Haar fällt ihm in langen Strähnen über den Kopf, die Hände kneten unablässig einen grauen Schal. Der Schriftsteller macht lange Pausen, bevor er antwortet, spricht leise, bisweilen kaum noch hörbar.

„Es ist eine Rolle“, sagt er nach sehr langem Zögern, „ich bin zwar aufrichtig in dem, was ich im Film sage. Aber eine Rolle ist es dennoch. Es stimmt, ich bin misanthropisch und autistisch veranlagt, doch wenn ich mich wirklich in so einer Situation befunden hätte, hätte ich ganz anders reagiert.“

Filmhinweis

„L’enlevement de Michel Houellebecq“ wird 2014 in Arte ausgestrahlt. Der genaue Sendetermin steht noch nicht fest.

Verschärftes Stockholm-Syndrom

Nicloux‘ amüsantes Kammerspiel ist die filmische Darstellung eines verschärften Stockholm-Syndroms: Der Entführte lernt seine Entführer schätzen, und die wundern sich über die Seelenruhe des Opfers. Houellebecq hat der Dreh Spaß gemacht, erzählt er, nicht zuletzt, weil so viel improvisiert wurde, Dialoge standen keine im Drehbuch, vier Kameras liefen gleichzeitig in allen Ecken, so dass er und die anderen Darsteller schnell vergaßen, dass sie dauernd gefilmt wurden.

So kann man dem geheimnisumwitterten Schriftsteller, der 2013 für seinen Roman „Karte und Gebiet“ mit dem begehrtesten Literaturpreis Frankreichs, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet wurde, minutenlang dabei zusehen, wie er an einem Sandwich herumkaut und, während ihm Brotbrösel aus dem Mund fallen, nach mehr Wein verlangt. Dann beschwert er sich wieder, dass er bei jeder neuen Zigarette – also praktisch dauernd - um ein Feuerzeug bitten muss, das ihm die Entführer abgenommen haben.

„Missachtung des Volkswillens“

So bizarr die Szenen sind, in denen der vollkommen untrainierte Houellebecq mit den kampfsportgestählten Entführern Krav-Maga-Positionen übt, so bitter ernst ist Houellebecq das, was er im Film über Frankreich sagt: Meinungsfreiheit gebe es kaum, Europa überhaupt habe nichts mit Demokratie zu tun, Schweden sei eine Diktatur: „Ich möchte mitentscheiden, was mit meinem Steuergeld passiert, ob es für Waffen oder Schulen ausgegeben wird“, so Houellebecq im Gespräch.

Und weiter: „In Frankreich wurde der EU-Verfassungsvertrag von Lissabon per Volksentscheid abgelehnt – umgesetzt haben ihn die Politiker dann doch. Zeigt das nicht die totale Missachtung des Volkswillens?“

Wird irgendjemand schließlich das Lösegeld für Houellebecq zahlen, oder wird er weiter über Europa, Poesie und Zigaretten schwadronieren? Das fragen sich die Gangster und die Zuschauer. Der Schriftsteller selbst fragt sich das gar nicht mehr so sehr. Er hätte - im Film - sogar nicht einmal etwas dagegen, wenn die Gangster seinem Leben ein Ende setzen würden. In seinem jüngsten Roman „Karte und Gebiet“ hat Houellebecq ja schon seine eigene Ermordung beschrieben. Wie möchte er wirklich sterben? „Mit Morphium.“

Alexander Musik, ORF.at, Berlin

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