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Kommen müssen

Gute vier Stunden Sex. Selten ist über einen Film schon im Vorfeld eines Berlinale-Starts so intensiv berichtet worden wie über Lars von Triers „Nymphomaniac“. Aber wehe jenen, die ins Kino kommen, um sexy Nackerte zu sehen: Die Strafe folgt auf den Fuß.

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Eine Showeinlage ist schon der Disclaimer, der Hinweis, der am Anfang eingeblendet wird. Sinngemäß heißt es da: Sie werden jetzt gleich eine zensurierte Version sehen, die der Regisseur so nicht gewollt hat. Denn ginge es nach dem ehemaligen Dogma-Star und Cannes-Rüpel Von Trier, müsste man zweimal fünfeinhalb Stunden durchgehend im Kino sitzen. Die gnadenlose Langversion von Teil eins wurde auf der Berlinale gezeigt, genau ein einziges Mal.

Alle anderen müssen sich mit zweimal zwei Stunden zufriedengeben. Teil eins läuft am 21. Februar in den heimischen Kinos an, Teil zwei folgt im April. Neben dem Sex, der am Filmplakat schon durch ein vaginales „o“ angekündigt wird - „Nymph()maniac“ -, ist auch die Besetzung dazu geneigt, viele Besucher ins Kino zu locken: Charlotte Gainsbourg, Shia LaBeouf, Christian Slater, Uma Thurman, Willem Dafoe, Udo Kier und viele weitere Prominente sind auf der Leinwand zu sehen.

Von Triers Cannes-Aktionismus in Berlin

Entsprechend groß war auch der Rummel in Berlin. Das Publikum bei der Premiere applaudierte frenetisch. Beim Fototermin davor hatten sich die Medienvertreter zwar hauptsächlich für Thurman interessiert, aber immerhin schaffte es Von Trier mit ein bisschen Aktionismus, sich kurz in den Vordergrund zu spielen. Er trug ein schwarzes T-Shirt mit goldener Palme und dem Spruch: „Persona non Grata - official selection“. Als solche war er vom Direktorium des Cannes-Festivals bezeichnet worden, als er „Verständnis“ für Hitler zeigte und sich so ironisch wie halblustig als „Nazi“ bezeichnete.

Für Fragen stand er danach nicht zur Verfügung. Gainsbourg war gleich gar nicht gekommen - sie blieb lieber zu Hause bei der Familie. Jungdarstellerin Stacy Martin („zum ersten Mal ein Drehbuch gelesen“), LaBeouf (der mit gammeliger Kappe gekommen war und aus Protest - wogegen eigentlich? - den Saal verließ), Slater, Thurman und Stellan Skarsgard bezeichneten Von Trier dann jedoch als verständnisvollen Regisseur, bei dem man sogar die explizitesten Szenen ohne Nervosität und Vorbehalte drehen könne.

Rubbeln bis zur Zerfleischung

Dieses hochkarätige Ensemble jedenfalls beobachtet man trotz aller Gelassenheit auf dem Set keineswegs beim fröhlichen Gruppensex, wie man etwa vermuten könnte, wenn man Von Triers ersten großen Kinoerfolg „Idioterne“ in Erinnerung hat. Vielmehr wird der lebenslange Leidensweg einer Sexsüchtigen nachgezeichnet. Sexsüchtig, das heißt nicht, dass man gerne Sex hat. Es bedeutet vielmehr: zum Orgasmus kommen müssen, dauernd, keine echten Beziehungen haben können, und letztlich rubbeln bis zur buchstäblichen Zerfleischung.

Filmszene aus "Nymphomaniac"

Filmladen/Christian Geisnaes

Seligman (Stellan Skarsgard) päppelt Joe (Charlotte Gainsbourg) auf

Aber zunächst zur Rahmenhandlung. Der ältere, liebenswürdige Eigenbrötler und Büchernarr Seligman (Stellan Skarsgard) findet im Innenhof die böse zusammengeschlagene, rund vierzig Jahre alte Joe (Charlotte Gainsbourg) und nimmt sie mit zu sich in die Wohnung. Dort wird sie nicht nur mit Tee und Kipferln aufgepäppelt, sondern darf auch ihre Lebensgeschichte erzählen.

Fliegenfischen und Gruppensex

Seligman nimmt eine wichtige Rolle ein - sein Charakter ist nicht zuletzt ein formaler Kunstgriff Von Triers. Durch ihn wird ein gelehrter Kommentar möglich, nicht aus dem Off, sondern mittendrin im Film. Seligman nervt Joe ein wenig mit seinen Einwürfen. Da wird sie an einer Stelle mit der Hure von Babylon verglichen. Dann wird ihr Treiben mit mehreren Männern von ihm den polyphonen Melodien des Spätmittelalters gleichgestellt, dann wieder die Suche nach dem richtigen Sexpartner mit Fliegenfischen verglichen.

Filmszene aus "Nymphomaniac"

Filmladen/Christian Geisnaes

Joe erzählt von ihren Ausschweifungen mit einer Mischung aus Stolz und Scham

Irgendwann blickt Joe auf und sagt: „Das war jetzt deine allerschwächste Analogie bisher.“ Mit dem Fliegenfischen hatte alles angefangen. Das war die Szene, als die junge Joe - großartig gespielt von der bisher unbekannten Stacy Martin - mit ihrer verruchten Freundin durch einen Zug zieht, von Abteil zu Abteil. Die Wette gilt: Wer der beiden Teenager kann bis zur Endstation die meisten Männer vögeln? Sie kommen beide an die zehnmal zum Zug im Zug.

Liebe = Lust + Eifersucht

Für Joe wird ein politisches Programm daraus. Liebe ist etwas für Spießer und führt nur zu Scherereien. Liebe definiert Joe als: Lust plus Eifersucht. Wo man doch auch Lust ohne Eifersucht haben kann! Nur wurde bei ihr die Lust recht bald zur Sucht. Acht Liebhaber an einem Tag, neben einem normalen Fulltimejob als Sekretärin, das ist anstrengend. Viele verliebte Männerseelen werden verletzt. Neben oftmals schlechtem Sex spielen sich auch noch Dramen ab.

Und so ist das bei Lars von Trier: Wo ein Drama ist, ist die Kamera nicht weit, und sie bleibt dran bis zur bitteren Neige. Der Todeskampf der einzigen von Joe geliebten Person wird gut zehn Minuten ausgewalzt, inklusive Fäkalienausstoß. Um sich abzulenken, geht sie in den Krankenhauskeller und schläft mit dem nächstbesten Pfleger. An anderer Stelle kommt die Ehefrau eines Liebhabers (großartig: Uma Thurman) mit drei Kindern, schreit, weint, kreischt vor Schmerz, schlägt ihren Mann, wird zynisch, beschimpft Joe. Wieder zehn Minuten Pein ohne Fluchtmöglichkeit.

Kein Sexfilm, kein Trauerspiel

„Nymphomaniac“ ist also kein Sexfilm, auch wenn kaum eine Minute vergeht, in der man keinen Penis, von groß bis klein, von dick bis dünn, keine Scheide (auch in einigen Varianten), keinen Anus oder zumindest nackte Brüste sieht. Es ist ein Film über eine Sucht, über Zwänge - und letztlich über die Einsamkeit.

Filmszene aus "Nymphomaniac"

Filmladen/Christian Geisnaes

Joes Leben - eine Polyphonie der Männerkörper: Lars von Triers Spieltrieb

Und trotzdem lässt er sich nicht als Kunst um der Kunst willen, als sinnlose Tränendrüsendrückerei abtun, die außer trist nur deprimierend ist. Dazu ist Von Trier von jeher zu verspielt. Zwar ufert seine cineastische Spielfreude hier nicht ganz so aus wie zuletzt in „Melancholia“ oder driftet ab in Horrorphantasien wie in „Antichrist“.

Filmhinweis

„Nymphomaniac Teil 1“ ist ab 21. Februar in österreichischen Kinos zu sehen, „Nymphomaniac Teil 2“ ab 4. April. Zusätzlich sind beide Filme bereits am 20. Februar im Votivkino als Double Feature zu sehen.

Kartografie der Körper

Aber auch hier schwebt Joe als junges Mädchen über einer Wiese und hat einen Spontanorgasmus, auch hier erscheinen Heilige und Huren, wenn Seligman ins Philosophieren kommt, oder ein Fleck an der Wand - in Pistolenform - führt zur Wendung der Story. Ein Ikonenreplikat neben der Türe gibt Anlass zur Reflexion. Seligmans Wohnung spielt eine der Hauptrollen, sie ist der asexuelle Stichwortgeber, anhand dessen Joe ihre sexuellen Ausschweifungen aufarbeitet.

Von Trier weist Orten genauso Bedeutung zu, wie er Körper kartografiert und danach katalogisiert. Es gibt keine „Moral von der Geschichte“ - und das Ende des zweiten Teils kommt unerwartet daher. Zwei Pole, der sexuelle und der asexuelle, werden umgepolt, zwei Welten brechen zusammen, zwei Lebenswege kollidieren.

„Nymphomaniac“ ist sorgsam komponiert, jedes der Kapitel der Geschichte für sich und die Geschichte als Ganzes. Der Kinobesuch zahlt sich also aus - vorausgesetzt, die Leidensfähigkeit des Besuchers geht über das schon sonst für Lars-von-Trier-Filme benötigte hohe Maß weit hinaus.

Simon Hadler, ORF.at

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