Glänzen nach außen
Die brasilianische Regierung hat der Bevölkerung des Schwellenlandes große Hoffnungen für die Fußball-WM 2014 gemacht: Millionen Arbeitsplätze würden geschaffen, fast drei Milliarden Euro werde man in die marode Verkehrsinfrastruktur und beinahe ebenso viel in den Ausbau der Flughäfen investieren. Vor der WM ist die Enttäuschung groß: Die Gelder fließen in den Bau der Stadien - die Bevölkerung sieht davon wenig.
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„Ich bin sicher, dass Brasilien glänzen wird, sowohl auf dem Feld wie außerhalb. Ich bin sicher, dass alle, die kommen, sich verlieben werden und zur WM zurückkommen wollen“, sagte Staatspräsidentin Dilma Rousseff voller Zuversicht bei der „Generalprobe“, dem Confederations Cup im Juni. Der Glanz, den das Land ausstrahlen will, ist jedoch ein inszenierter.
Denn auch wenn sich in den vergangenen Jahren in dem bevölkerungsreichen Land viel getan hat, leben noch immer mehr als die Hälfte der Brasilianer an der Armutsgrenze. Ein Prozent der Bewohner besitzt 30 Prozent des Einkommens, beschreibt Jacqueline Elizabeth Rutkowski im Interview mit ORF.at die sozialen Unterschiede. Acht bis 14 Millionen Menschen, vor allem in entlegenen Gebieten, seien von den Behörden überhaupt nicht erfasst und besitzen nicht einmal Dokumente. Rutkowski forscht gemeinsam mit ihrem Projektpartner, dem Leiter der NGO INSEA, Luciano Marcos Pereira da Silva, zu den Themen solidarische Ökonomie und nachhaltige Entwicklung.

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„Ein großes Festbankett, zu dem die Bevölkerung nicht geladen ist“ - so sieht die Wissenschaftlerin Rutkowski die bevorstehende WM
Bewohner müssen weichen
Aus der Sicht der beiden bleibt die Bevölkerung während der WM-Vorbereitungen auf der Strecke. „Das, was sich die Brasilianer erhofft haben, ist nicht eingetroffen“, so Da Silva. Ganz im Gegenteil: Die Regierung „säubere“ die Städte und vertreibe die Armut aus den Stadtbildern - für die Touristen. „Die Menschen werden umgesiedelt und stehen dann ohne Haus und ohne Arbeit da.“ Die WM verschlimmere die Lebenssituation für viele Brasilianer.
Die soziale Unzufriedenheit ist groß: Seit Monaten finden im ganzen Land immer wieder Proteste statt. Die Demonstranten können nicht verstehen, warum Millionen in Stadien fließen und die Investitionen in die öffentliche Infrastruktur ausbleiben. Investitionen, von denen die Brasilianer profitieren würden.
Einige Verbesserungen, viele Baustellen
Brasilien galt lange als boomendes Wirtschaftswunder. Und auch wenn der Hype angesichts eines mittlerweile stotternden Konjunkturmotors abgeebbt ist, hat sich in den vergangenen Jahren in der sechstgrößten Volkswirtschaft vieles gebessert. Das Einkommen ist besser verteilt, ein Mindestlohn wurde unter Ex-Präsident Luiz Inacio Lula da Silva eingeführt und seither mehr als verdoppelt. Öffentliche Dienstleistungen wurden für eine größere Bevölkerungsschicht geöffnet, ein Pensionssystem auch für die Armen geschaffen. Große Defizite gebe es dennoch - denn obwohl Leistungen wie das öffentliche Verkehrssystem für eine breitere Schicht geöffnet wurden, wurden diese nicht ausgebaut.
„Catadores“ als Rückgrat des Recyclingsystems
Die WM wurde von vielen als mögliche Chance gesehen, mehr Arbeitsplätze zu schaffen und die Einkommenssituation zu verbessern - die Regierung hatte nach dem Zuschlag versprochen, die lokale Bevölkerung stark in die Projekte einzubeziehen. Gehalten wurde dieses Versprechen aber nicht.
Für Da Silva und Rutkowski lässt sich die Ausgrenzung der lokalen Bevölkerung sehr gut am Beispiel der „Catadores“ ablesen: Zu ihnen zählen rund eine Million Brasilianer, die ihren Lebensunterhalt mit dem Sammeln und Recyceln von Abfall verdienen. Sie sind in vielen Städten praktisch das Rückgrat des Abfallwirtschaftssystems und arbeiten teils effektiver als die lokalen Behörden. Vor allem sorgen sie dafür, dass nicht der gesamte Müll ungetrennt auf Deponien oder in Verbrennungsanlagen landet, sondern wiederverwertet wird. Für einen mageren Lohn liefern sie damit der Industrie eine wichtige Rohstoffgrundlage und schaffen ein nachhaltigeres Entsorgungssystem, als es der Staat bieten kann.

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Da Silva kämpft mit seiner NGO dafür, dass lokale Recycling-Kooperativen auch während der WM arbeiten dürfen
FIFA sperrt lokale Händler aus
Ihnen wird während der WM jedoch, nach derzeitigem Stand, die Lebensgrundlage entzogen. Der Fußballverband FIFA verbietet ihnen ebenso wie den zahlreichen Straßenverkäufern rund um die Austragungsorte, ihre Arbeit auszuüben. Im Umkreis von zwei Kilometern rund um die Stadien ist „FIFA-Grund“, so Da Silva. Dort werde alles von dem Sportverband geregelt - Aufträge werden ausgeschrieben und an Firmen vergeben. Die lokalen, erprobten Handelsstrukturen werden verbannt.
Doch die „Catadores“ wollen nicht nur ein Anhang der Gesellschaft sein, und kämpfen um ihre Rechte. Da Silva berät mit seiner NGO die Müllsammelkooperativen, die derzeit in Verhandlungen mit der brasilianischen Regierung um eine Einbeziehung des vorhandenen Know-hows und ihrer Arbeitskraft in die Fußball WM 2014 stehen. Die vielen Straßenhändler, die aus dem brasilianischen Stadtbild eigentlich gar nicht wegzudenken sind, können sich gegen die Regeln nicht wehren, da sie beinahe alle informell auf eigene Faust arbeiten und nicht organisiert sind.
Keine Fremdsprachen, kein Job
Ob und wie die Durchschnittsbevölkerung auf irgendeine Weise von der WM profitieren wird, sei derzeit nicht abzusehen. Rutkowski glaubt auch nicht, dass die vielen versprochenen Arbeitsplätze an Brasilianer vergeben werden - „die breite Masse spricht nicht viele Sprachen, es fehlt ihr an Ausbildung - und deshalb wird es für sie wohl auch keine Anstellung geben“. Zu dem großen „Festbankett WM“ sei die Bevölkerung nicht geladen.
Parallelen zu den Missständen in Katar, wo Arbeiter beim Stadienbau buchstäblich zu Tode ausgebeutet werden, will Rutkowski aber dennoch nicht ziehen. Das ließen sich die brasilianischen Arbeiter gar nicht gefallen. Gewachsen unter dem Ex-Präsidenten Lula da Silva, selbst ehemaliger Gewerkschafter, pochten die Gewerkschaften von Anfang an auf ihre Rechte: Gleich zu Beginn der Bauvorhaben traten sie in den Streik. Zumindest ihnen gelang es damit, sich bessere Löhne zu erkämpfen.
Petra Fleck, ORF.at
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