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„Missbrauch und Ausbeutung“

Bis zur Fußball-Weltmeisterschaft 2022 ist es noch weit, aber das Gastgeberland, das Emirat Katar, hat längst damit begonnen, neue Straßen, Bahnstrecken, Stadien und Hotels für Milliardensummen aus dem Boden zu stampfen. Erneut werden nun Vorwürfe laut, ausländische Arbeitskräfte würden dabei unter menschenunwürdigen Bedingungen ausgebeutet.

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Ende September veröffentlichte der britische „Guardian“ eine Exklusivreportage über „Missbrauch und Ausbeutung von Gastarbeitern“ im Rahmen der Vorbereitungen für 2022. An sich sind diese Anschuldigungen nicht ganz neu, sie waren schon in den letzten Monaten mehrfach erhoben - und zurückgewiesen - worden. In seiner Reportage druckte der „Guardian“ nun aber ein Dokument aus der nepalesischen Botschaft in der katarischen Hauptstadt Doha ab, in dem der Tod von 44 Arbeitern in rund acht Wochen vermerkt ist. Rund 30 Nepalesen hätten in der Botschaft Schutz gesucht.

Die Arbeiter müssten „entsetzliche“ Arbeitsbedingungen erdulden, so die britische Zeitung. Man müsse sich „ernsthafte Fragen“ über die Vorbereitungen des Emirats auf das Sportgroßereignis stellen. Laut der Zeitung starb im Sommer durchschnittlich ein Arbeiter pro Tag. Ursache war in mehr als der Hälfte der Fälle Herzversagen, obwohl es sich zumeist um junge Männer gehandelt habe. Arbeitsunfälle mit tödlichem Ausgang waren seltener.

Kein Lohn, kein Wasser, keine Dokumente

Als Grund nannte der „Guardian“ Arbeitsbedingungen, die an „moderne Sklaverei“, wie sie von der Internationalen Arbeitsorganisation der UNO (ILO) definiert seien, erinnerten. Es gebe „Indizien für Zwangsarbeit bei einem großen Infrastrukturprojekt für die WM“. Arbeiter würden sich beklagen, seit Monaten keinen Lohn bekommen zu haben, bzw. würden Gehälter und oft auch Dokumente vom Arbeitgeber einbehalten, um zu verhindern, dass Arbeiter das Land verlassen.

Arbeiter schlafen auf einer Baustelle

Reuters

Im Sommer erreichen die Temperaturen auf den Baustellen 50 Grad und darüber

Weitere Vorwürfe: Kein (kostenloses) Trinkwasser bei Temperaturen von 50 Grad in der Wüste, Zwölfstundenschichten ohne Verpflegung, Erkrankungen wegen schlechter Hygienebedingungen in den Unterkünften. Die Behörden des Emirats weisen darauf hin, dass Gratiswasser und Arbeitspausen bei extremer Hitze im lokalen Arbeitsrecht garantiert seien. Schuld an den menschenunwürdigen Bedingungen für die Arbeiter will niemand sein.

WM-Veranstalter „tief betroffen“

Das Organisationskomitee der Qatar Football Association (QFA) für die WM 2022 erklärte gegenüber dem „Guardian“, man sei „tief betroffen angesichts der Vorwürfe, die gegen einige Unternehmen/Subunternehmen erhoben wurden“, die Causa sei äußerst ernst. Man sei informiert worden, dass die Regierungsbehörden die Vorwürfe bereits prüften. Gegenüber der britischen BBC hieß es von dem Komitee, es gebe „keinerlei Entschuldigung dafür, dass Arbeiter derart behandelt werden, weder in Katar noch sonst wo“.

FIFA „sehr besorgt“

Der Weltfußballverband (FIFA) zeigte sich in einer ersten Reaktion zwar „sehr besorgt“ über die Berichte. Zuständig fühlt man sich allerdings nicht. Die FIFA könne nicht zur Verantwortung gezogen werden, sagte FIFA-Chef Joseph Blatter bei einer Pressekonferenz in Zürich. „Es tut uns sehr leid, was passiert ist“, so Blatter, dem zufolge es in jedem Land geschehen könne, dass es Todesfälle auf den Baustellen gibt. Auf die Frage nach der Verantwortung gibt es laut Blatter jedenfalls eine klare Antwort: Da die Überprüfung der Arbeitsrechte in Katar „eine Verantwortung der Unternehmen“ sei, könne „eine Intervention nur durch Katar erfolgen“.

Treffen mit Emir angekündigt

Die FIFA habe 209 Mitgliedsverbände und könne nicht in diese Dinge eingreifen, so Blatter weiter. Der Schweizer will nun aber zusammen mit einer Delegation des Exekutivkomitees zu einem Höflichkeitsbesuch nach Katar reisen, wo er auch den neuen Emir treffen will. Eine Neuvergabe der Weltmeisterschaft steht für Blatter jedenfalls nicht zur Debatte: „Die Entscheidung vom 2. Dezember 2010 (an diesem Tag wurde die WM in Katar vergeben, Anm.) ist immer noch gültig. Es gibt keinen Grund, sie infrage zu stellen.“

Laut „Guardian“ wird das Golf-Emirat schätzungsweise fast 75 Mrd. Euro in Infrastrukturprojekte für die WM 2022 investieren, davon fast 15 Milliarden in Straßen. Neun neue Stadien sollen gebaut werden, eine Dammstraße um knapp drei Milliarden Euro soll künftig Katar mit dem benachbarten Bahrain verbinden. Umgerechnet fast 18 Milliarden Euro fließen in ein Hochgeschwindigkeitsnetz der Bahn, 55.000 Hotelzimmer werden gebaut, ein neuer Flughafen ist beinahe fertig. Für das Prestigeprojekt Lusail City stampft Katar nördlich von Doha eine ganze Retortenstadt aus dem Wüstenboden.

Wer trägt die Verantwortung?

Die britische Unternehmensgruppe Halcrow, die bei dem Projekt federführend tätig ist, verfolgt laut eigenen Worten eine „Nulltoleranzpolitik gegen Zwangsarbeit und andere Formen des Menschenhandels“. Man sieht sich im Gegenteil als Garant für die Einhaltung gewisser Standards für Gesundheit, Sicherheit und Umwelt. Allerdings fielen die konkreten Bedingungen, zu denen Arbeitskräfte eingestellt würden, „nicht in den direkten eigenen Zuständigkeitsbereich“.

Extrem hoher Gastarbeiteranteil

Länder wie Katar, aber auch Dubai haben mit bis zu 90 Prozent den größten Anteil an Gastarbeitern gemessen an der Bevölkerung weltweit: Für die WM 2022 samt Bau von Straßen, Stadien und Hotels dürfte das Emirat laut dem britischen „Guardian“ bis zu 1,5 Millionen weitere anwerben. Aus Nepal seien im Vorjahr mehr als 100.000 Arbeiter nach Katar gekommen.

Für die Organisation Anti-Slavery International ist die Sache klar: In Katar gebe es „klare Beweise für systematische Zwangsarbeit“, mehr noch: Die Situation der Arbeiter im Emirat komme an „Sklaverei in ihrer alten Form, in der Menschen als Objekte behandelt wurden“, heran, so der Leiter der Initiative, Aidan McQuade, gegenüber dem „Guardian“.

Die katarischen Behörden könnten noch so auf die Einhaltung arbeitsrechtlicher Standards auf den Baustellen pochen, ein paar Ebenen darunter sei ein „komplexes Netz“ von Projektmanagern, Unternehmen und Subunternehmen, Zeitarbeitsfirmen und Arbeitsvermittlern aktiv, das kaum noch durchschaubar sei – übrigens kein spezifisch katarisches Phänomen, wenn es um Sozialdumping geht.

„Ich, Fußballer, Geisel meines Clubs“

Manchmal sind nicht nur Arbeiter Opfer. Bereits im Frühjahr hatte der Fall des französischen Legionärs Zahir Belounis im Emirat für Schlagzeilen gesorgt. „Ich, Fußballer, Geisel meines Clubs in Katar“ lautete damals eine Schlagzeile in „Le Parisien“. Der US-Sender CNN berichtete danach im Mai, Belounis habe zwei Jahre ohne Lohn gespielt, um auf seine Lage aufmerksam zu machen, trat er in den Hungerstreik.

„Sie behandeln mich wie einen Hund, aber ich werde kämpfen.“ Er werde „hier in Katar sterben“, wenn es sein müsse, sagte der 33-jährige Stürmer damals. Seine Frau und die beiden Kinder schickte er nach Frankreich zurück.

Nicht nur ein Match lang

Er sei bedroht worden, habe gegen seinen Willen für andere Clubs spielen müssen, habe zwei Jahre kein Geld gesehen und habe das Land nicht verlassen können, so Belounis gegenüber CNN. Anderen Legionären gehe es im Emirat nicht anders, hieß es.

Die Qualen der Arbeiter machten aus Sorgen, die man sich für 2022 um die Fußballer mache, „zur Posse“, meinte nicht nur der „Guardian“, sondern auch der Generalsekretär des nepalesischen Gewerkschaftsdachverbandes (GEFONT), Umesh Upadhyaya: „Jeder redet darüber, welche Auswirkungen die extreme Hitze in Katar auf ein par hundert Fußballspieler haben wird.“ Aber niemanden interessierten „Elend, Blut und Schweiß Tausender Arbeitsmigranten“, die die Stadien bauten und deren Schichten täglich achtmal so lange dauern könnten wie ein Fußballmatch.

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