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Ein Land in permanentem Aufruhr

Das Bild Brasiliens oszilliert seit jeher zwischen Traumdestination und Alptraumland. Rund um die Frankfurter Buchmesse hat man nun die Gelegenheit, die Verhältnisse besser kennenzulernen, gesehen durch die Brille von Autorinnen und Autoren; eine Einladung, der nachzukommen lohnend sein kann. ORF.at empfiehlt brasilianische Leseerlebnisse.

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Die Buchmesse hat durchaus ihre Auswirkungen. Die ausufernden, fantasiegetränkten Romane zeitgenössischer indischer Autoren etwa sind dank der Messe heute aus den Verlagsprogrammen nicht mehr wegzudenken. Denselben Schub kann man der brasilianischen Literatur nur wünschen - der historischen genauso wie der zeitgenössischen.

Schriftsteller ohne Publikum

In Österreich wird, wenn es um Brasilien geht, unvermeidlich der nach Brasilien ausgewanderte Stefan Zweig als Erstes zitiert. Er prägte aber nicht nur unfreiwillig das Bonmot, dass Brasilien das Land der Zukunft sei - und es, wie später hinzugefügt wurde, immer bleiben werde -, Zweig beschäftigt sich in seinem 1941 erschienenen Buch „Brasilien. Ein Land der Zukunft“ am Rande auch mit der Literatur des Landes.

Über die sagt er, dass sie von hoher Qualität sei, aber von einigen Ausnahmen abgesehen zu sehr den europäischen Vorbildern nacheifere, zu wenig eigenständig sei. Und dass sie an dem Problem leide, von zu wenigen Menschen gelesen zu werden - schlicht und einfach aufgrund der Tatsache, dass ein Großteil der Bevölkerung bis dato sozial marginalisiert worden sei und viele nicht lesen könnten.

Eine Besucherin geht durch den Brasilianischen Pavillion

AP/Michael Probst

Der brasilianische Pavillon bei der Frankfurter Buchmesse

Sklaverei und Kolonialismus

Was nicht heißt, dass man sich nicht auch die frühe Kolonialgeschichte Brasiliens lesend aneignen könnte. Empfohlen sei hier Heinrich Handelmanns „Geschichte von Brasilien“. Sein 1860 verfasstes Buch ist in einer kommentierten und aktualisierten Version erstmals 1987 bei Manesse erschienen und in neueren Auflagen noch erhältlich. In aufgeklärtem Tonfall, durchwegs spannend, erzählt Handelmann ausführlich auf über 1.000 Seiten von den Hintergründen und Bedingungen der Kolonisierung und von Brasiliens Kampf um die Unabhängigkeit.

Eine gelungene literarische Annäherung hat Ana Miranda mit ihrem Buch „Höllenmaul“ (1989, Kiepenheuer & Witsch - man muss sich nach gebrauchten Exemplaren umschauen) geliefert. Sie siedelte ihren historischen Roman im 17. Jahrhundert an - und man kann getrost alle Vorurteile vergessen, die gegenüber dem Genre gehegt werden. Mirandas Panorama der korrupten Kolonialherren samt katholischer Kirche, ihre Erzählungen von Sklavenmärkten und Plantagen kommt ohne Übertreibungen aus - und ist umso packender.

Touristenkitsch und Alltag zugleich

Die Tausenden und Abertausenden von Afrikanern, die damals versklavt und nach Brasilien verschifft wurden, brachten ihre Traditionen mit. Vieles, was heute einerseits touristisch für Brasilien-Reisende ausgeschlachtet wird und andererseits den Alltag der Menschen weiter prägt, hat dort seinen Ursprung. Die alten Götter wurden, um sie ungestraft anbeten zu können, im brasilianischen Candomble mit katholischen Heiligen vermischt. Für die Vorbereitung zum großen Aufstand wurde aus dem Kampf ein vermeintlich harmloser Tanz: Capoeira.

In Mirandas Roman wird aufgeworfen, was in der Geschichte Brasiliens bis zuletzt Thema bleiben sollte. Einerseits der kulturelle Reichtum, aus dem alle Bevölkerungsschichten schöpfen, ausgehend von den Kulturen Afrikas, Europas und der Indianer (im Zusammenhang mit Brasilien ist dieser Begriff politisch korrekt), andererseits die in Jahrhunderten gewachsene kulturelle Angewohnheit der Reichen und Mächtigen, ihre Pfründe mit unlauteren Mitteln zu verteidigen.

Faul, unzuverlässig, unberechenbar

Der erste Autor, den Stefan Zweig gelten lässt, ist jedenfalls Machado de Assis. In seinem großen Epos „Memorias Postumas de Bras Cubas“ (1881, heute über Manesse zu beziehen) berichtet der Ich-Erzähler vom Jenseits aus, wie er seine irdische Existenz als Teil der Nomenklatura und der besseren Gesellschaft Brasiliens vergeudet hat. Er lebte in den Tag hinein, probierte mal dies, mal das und kam nicht zum Punkt. Hier wird Gesellschaftskritik laut - auch wenn Zeitgenossen monierten, dass Machado de Assis nicht politisch, sprich deutlich genug war.

Eine nächste Generation an Autoren ist dem brasilianischen Modernismo zuzuordnen, allen voran Mario de Andrade. Sein „Macunaima“ (neu aufgelegt zur Buchmesse von Suhrkamp) ist die vielleicht berühmteste Figur der brasilianischen Literaturgeschichte. Er ist faul, unzuverlässig, unberechenbar, und driftet quer durch die Gemengelage dessen, was Brasilien ausmacht: Geboren als Sohn einer Indianerin, wandert er vom Land nach Sao Paulo aus, in die „Maschinenwelt“, die trotzdem bevölkert ist von den mythischen Figuren der Indianer.

Der Terror der Straße

De Andrade ging es darum, dem Amalgam Brasiliens ein Denkmal zu setzen, aus der Sicht der Habenichtse. Noch deutlicher lösten spätere Autoren den Anspruch ein, politisch zu sein. Jorge Amado, geboren 1912 im sagenumwobenen Nordosten des Landes, sollte bis heute der berühmteste Schriftsteller Brasiliens bleiben. Seine Figuren strotzten trotz der Misere ihres Alltags vor Leben und mussten sich in einer feindlichen Umwelt durchschlagen - manchmal ohne Rücksicht auf Verluste.

Amados „Capitaes da Areia“ („Herren des Strandes“, rororo) ist eines jener Bücher, die man auch heute noch regelmäßig von Brasilianern aller Altersstufen empfohlen bekommt. Die Geschichte von Straßenkindern samt liebevoller Porträts, 1937 erschienen, konfrontiert den Leser schonungslos mit dem Terror der Straße - an dem sich seither wenig geändert hat. Amados „Dona Flor und ihre zwei Ehemänner“ und de Andrades „Macunaima“ zählen übrigens zu den erfolgreichsten Literaturverfilmungen Brasiliens.

Im wilden Nordosten

Ein weiterer Klassiker der Literaturgeschichte ist Joao Guimaraes Rosas „Grande Sertao“ aus dem Jahr 1956. Hier setzt der Autor den Banden des wilden Nordostens ein Denkmal, die im trockenen Armenhaus des Landes ums Überleben kämpften und einander sinnlose Scharmützel lieferten. Das Buch erzielt seine Wirkung mit einfachster Sprache. Kersten Knipp schreibt in ihrer Kulturgeschichte Brasiliens: „Guimaraes Rosa hat das große Epos der Steppe geschrieben, eine Hymne auf die brasilianische Wildnis, das gewaltige Terrain im Herzen des Landes, im Niemandsland zwischen Mato Grosso, Bahia, Minas Gerais, Maranhao und Para.“

Auf der Sitzstange der Seelen

Die beiden Ehrengäste der Buchmesse werden Joao Ubaldo Ribeiro und Luiz Ruffato sein. An Ribeiro erinnert man sich in Deutschland noch, weil er während seiner beiden Jahre in Berlin 1990/1991 für Zeitungen Beiträge schrieb, die dann unter dem Titel „Ein Brasilianer in Berlin“ in einem Buch zusammengefasst wurden. Er gilt als einer der beliebtesten Schriftsteller Brasiliens.

Sein 1988 erschienenes Epos „Brasilien, Brasilien“ ist mit ungeheurer Fabulierlust geschrieben und mit ungewöhnlichen Bildern ausgestattet, die in Erinnerung bleiben (die „Sitzstange der Seelen“) und umfasst in seiner Handlung mehrere Jahrhunderte brasilianischer Geschichte.

Die Götter erwachen zum Leben, die reale Welt transzendiert, Reich und Arm, Schwarz und Weiß werden durcheinandergewirbelt in einem schriftstellerischen Gewaltakt, der dabei immer noch leichtfüßig wirkt. Es ist schwer, hier Superlative zu vermeiden und nicht von einem der intensivsten und poetischsten Leseerlebnisse sprechen, die möglich sind.

TV-Hinweis

„Kultur.montag“ berichtet kommende Woche um 22.30 Uhr in ORF2 von den Leseerlebnissen der Frankfurter Buchmesse und war auf Lokalaugenschein im Gastland Brasilien.

Der Moloch Sao Paulo

Den Brückenschlag in die Gegenwart schafft der 1961 geborene Luiz Ruffato, dessen Buch „Es waren viele Pferde“ im Jahr 2001 für Furore sorgte und nun rechtzeitig zur Messe in zweiter Auflage von der Assoziation A verlegt wurde. In 70 Szenen beobachtet der Autor den Moloch Sao Paulo, begleitet und kommentiert Dealer, Prostituierte und Durchschnittsmenschen. Kein Wort zu viel, kein Wort zu wenig, beschied ihm die internationale Kritik - Ruffato habe in filmischer Sprache den alltäglichen Wahnsinn einer Millionenstadt auf den Punkt gebracht.

Abgesehen von diesen Streiflichtern: Wer es genauer wissen will, dem sei die ausführliche und erhellende Abhandlung Gerhard Drekonja-Kornats in der „Presse“ empfohlen - auch hier findet sich eine Literaturliste, die abzuarbeiten keine Mühe kostet, sondern Freude bereitet. Selbiges gilt für Kersten Knipps „Das ewige Versprechen. Eine Kulturgeschichte Brasiliens“, ein weiterer Suhrkamp-Beitrag zum Buchmesseschwerpunkt. Wer sich überzeugen möchte, dass Brasilien nicht nur ein Land der Zukunft (welches Land ist das nicht?), sondern eines mit prall gefüllter Vergangenheit und entsprechend spannender Gegenwart ist, der kann literarisch aus dem Vollen schöpfen.

Simon Hadler, ORF.at

Buchhinweise

Stefan Zweig: Brasilien. Ein Land der Zukunft. Insel, 312 Seiten, zehn Euro

Heinrich Handelmann: Geschichte von Brasilien. Manesse, 1.166 Seiten, 27,95 Euro

Ana Miranda: Höllenmaul. Kiepenheuer und Witsch, 432 Seiten, vergriffen

Machado de Assis: Die nachträglichen Memoiren des Bras Cubas. Manesse, 384 Seiten, 19,90 Euro

Mario de Andrade: Macunaima. Suhrkamp, 217 Seiten, 18,50 Euro

Jorge Amado: Herren der Straße. rororo, 288 Seiten, 7,99 Euro

Joao Guimaraes Rosa: Grande Sertao. Kiepenheuer & Witsch, 556 Seiten, vergriffen

Joao Ubaldo Ribeiro: Brasilien, Brasilien. Suhrkamp, 734 Seiten, 17,50 Euro

Luiz Ruffato: Es waren viele Pferde. Assoziation A, 160 Seiten, 18,50 Euro

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