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Ein Urteil, das keine Fragen beantwortet

Für die einen ist die Unschuldsvermutung zur lästigen Zumutung geworden, für die anderen zur Unschuldsgarantie - und für alle war die Wahrung der Privatsphäre Nebensache: Noch selten gerieten Medien so außer Rand und Band wie bei Berichten über die Vergewaltigungsvorwürfe gegen den Schweizer TV-Moderator Jörg Kachelmann.

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Dienstagvormittag, 14 Monate nach Kachelmanns überraschender Verhaftung auf dem Frankfurter Flughafen, fällte das Landgericht im deutschen Mannheim das Urteil im Vergewaltigungsprozess. Beweise für den Vorwurf von Kachelmanns früherer Freundin, er habe sie im Zorn brutal vergewaltigt, weil sie ihn verlassen wollte, gab es in 43 Verhandlungstagen nicht. Das hinderte viele deutsche Medien nicht daran, schon seit Monaten ein selbst gefälltes Urteil zu trommeln.

Für „Bild“ sind „Frauen immer Opfer“

Die größten Akteure der Meinungsmache von ungewohntem Ausmaß waren auf der einen Seite die „Bild“-Zeitung, die mit Alice Schwarzer als Kolumnistin gegen Kachelmann polemisierte, und auf der anderen Seite der „Spiegel“ und die „Zeit“, die demonstrativ Partei für den Angeklagten ergriffen. Als Sekundanten agierten dabei etwa die Illustrierte „Bunte“ und das Magazin „Focus“, die mit voyeuristischen Berichten knietief in der Intimsphäre der beteiligten Personen wateten.

Die Berichterstattung vor allem dieser Medien im Fall Kachelmann hatte nur selten etwas mit Gerichtsreportagen und Chronikberichterstattung zu tun. Eher glich sie dem Schlachtenbummler-Jargon aus Fußballländerspielen. Dabei wurde etwa der Staatsanwalt als „durchaus überzeugend“, die Aussagen des angeblichen Opfers als zweifelsfrei wahr und Kachelmanns Anwalt als „eitel“ mit „durchsichtigen Manövern“ geschildert. Und ohnehin seien „immer Frauen Opfer der Liebe“ (alle Zitate aus „Bild“).

Von Einsicht keine Spur

„Spiegel“ und „Zeit“ waren nur ein wenig zimperlicher in der Parteinahme für Kachelmann: Dort waren Kachelmanns Anwälte „präzise und scharfsinnig“ und nahmen „die Anklage auseinander, bis nichts übrig blieb. Beweise? Mitnichten.“ Der Staatsanwaltschaft wiederum wurde vorgeworfen, entlastende Fakten bewusst zu verdrehen oder zu verschweigen („Spiegel“). Die „Zeit“ assistierte etwa mit dem Vorwurf, die Ankläger seien darauf aus, Kachelmanns Existenz zu zerstören, weil ihnen „die Beweise geradezu unter den Händen zerrinnen“.

Von Einsicht war bis zuletzt keine Spur, im Gegenteil: Das mediale Wettrüsten der Parteinahme trieb immer wildere Blüten. Die „Bild“-Zeitung bezichtigte Kachelmann etwa in ihrer Sonntag-Ausgabe wegen dessen unsteten Liebeslebens indirekt des Wahnsinns in einer „teuflischen“ und „gefährlich genialen“ Ausprägung. Im „Spiegel“ wiederum wurde den Anklägern unterstellt, sie lebten in einer „Parallelwelt“, weil sie ihre Vorwürfe lediglich mit dem „Glauben“ an die Aussagen von Kachelmanns Ex-Geliebter begründeten.

Ansehen als „Kollateralschaden“ zerstört

Wie in fast jedem Vergewaltigungsprozess - vor allem, wenn Angeklagter und angebliches Opfer eine Beziehung zueinander hatten - gab es bei diesem Prozess jedoch nicht viel mehr als die Entscheidung, wem man glaubt. Es gab nur wenige konkrete Themen für das Beweisverfahren, die dafür umso ausführlicher von Gutachtern seziert wurden: ein Messer, das möglicherweise im Spiel war - oder auch nicht; Verletzungen, die sich das Opfer selbst zugefügt hatte - oder auch nicht.

Verteidiger und Ankläger konnten daher nicht viel anderes tun, als die Glaubwürdigkeit der jeweiligen Gegenseite infrage zu stellen. Als „Kollateralschaden“ entstand dabei das Bild des Prominenten mit Doppelleben und eigentümlichen sexuellen Vorlieben auf der einen Seite; und das einer aus verschmähter Liebe hysterisch und pathologisch auf Rache sinnenden Frau auf der anderen Seite.

Medienberichte auf Strafe angerechnet

Überraschend bezog das auf Kachelmanns Seite auch die Staatsanwaltschaft in ihre Strafforderung ein. Trotz des Vorwurfs der „besonders schweren Vergewaltigung“ mit einem Strafrahmen von bis zu 15 Jahren forderte die Anklage „nur“ vier Jahre und drei Monate Gefängnis. Die Begründung: Kachelmann habe durch die Medienberichterstattung bereits eine „massive Beeinträchtigung“ erlitten. Kachelmanns Anwälte plädierten wenig überraschend auf nicht schuldig.

Als wahrscheinlichste Variante für den Urteilsspruch am Dienstag hatten Prozessbeobachter schon seit längerem einen Freispruch im Zweifel vermutet - allein schon, weil alles andere das Verfahren vermutlich in die nächste Instanz gebracht hätte. Daran hätte vermutlich niemand von den Beteiligten ein Interesse gehabt. Die Frage, ob der Moderator oder die Frau im Gerichtssaal gelogen hat, bleibt dabei ungelöst zurück. Nicht umsonst lernt man im Jusstudium aber als eine der ersten Lektionen, dass Recht und Gerechtigkeit mit gutem Grund zwei verschiedene Worte seien.

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