Themenüberblick

„Unterschiedlichste Vorschläge“

Die künftigen Beziehungen der EU mit Großbritannien stehen noch in den Sternen. Eine „Brexit“-Auswirkung auf Brüssel bzw. Straßburg ist aber schon fix - die Sitze im EU-Parlament werden mit einem Schlag unbesetzt sein. Was mit diesen 73 Plätzen geschehen soll, ist derzeit noch völlig unklar. Ein Parlamentsausschuss befasst sich gerade damit - und es zeigt sich: Es gibt eine Fülle verschiedener Vorstellungen.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.

Der Weg hin zu einem fixen Vorschlag, der letztlich dem gesamten Plenum im Parlament zu Abstimmung vorgelegt wird, ist noch länger. Bereits im September war dem Ausschuss ein Berichtsentwurf zur Diskussion vorgelegt worden - darin war vermerkt, dass das Parlament nach dem „Brexit“ von 751 auf 700 Abgeordnete schrumpfen soll.

170 Änderungsanträge

Von den 73 ausscheidenden britischen Mandataren sollten demnach 51 nicht nachbesetzt werden, 22 sollten auf die anderen Staaten aufgeteilt werden. Auch wurde vorgeschlagen, die 51 frei bleibenden Sitze könnten künftig mit Mandataren „transnationaler“ (also bei EU-Wahlen staatenübergreifend antretender) Listen besetzt werden. Dazu brauchte es aber eine Wahlrechtsänderung.

Zusätzlich wurde festgehalten, dass die derzeitige Sitzverteilung nicht mehr ausreichend dem Grundsatz der „degressiven Proportionalität“ entspricht. Dieser sieht vor, dass die Staaten mit weniger Einwohnern überproportional im Parlament vertreten sind, während die Staaten mit den höchsten Bevölkerungsanteilen unterrepräsentiert sind. Plädiert wird für eine „schnellstmögliche Korrektur“ in Richtung des vereinbarten Grundsatzes - im Zuge jüngster Beitritte hatte es Verschiebungen gegeben.

„Kompromiss unmöglich“

Was auf den Berichtsentwurf folgte, war eine große Anzahl an Änderungsanträgen - 170 an der Zahl. Und die inhaltliche Spanne ist enorm, wie die Vorsitzende des Verfassungsausschusses, die polnische Konservative Danuta Hübner, erklärte: „Sie gehen so weit auseinander, dass ein Kompromiss unmöglich ist.“ Ihr Vorsitzkollege, Pedro Silva Pereira, appellierte gar an die Abgeordneten im Ausschuss: Ihnen müsse bewusst sein, „dass wir eine faire und zugleich politisch machbare Lösung brauchen“. Nicht alle Anträge würden dieser Vorgabe entsprechen, so der Sozialdemokrat aus Portugal.

Plenarsaal des EU-Parlaments in Straßburg

Reuters/Christian Hartmann

Das EU-Parlament - im Bild jenes in Straßburg - wird wohl nach dem „Brexit“ vorerst weniger Abgeordnete haben

„Verschiedene mathematische Formeln“

So gäbe es etwa Vorschläge, die eine Reduktion der Sitze vorschlagen, ohne jedoch eine Umverteilung vorzusehen. Das sei „unmöglich“, so Pereira. Andere Änderungsanträge rufen wiederum zu einer Berechnung mittels Anwendung eines mathematischen Schlüssels auf. Das Problem sei nicht die Idee an sich - sie wurde im Berichtsentwurf ja auch vorgeschlagen -, sondern dass sich in den 170 Änderungsvorschlägen „mindestens fünf verschiedene Formeln“ finden würden.

Darunter fänden sich auch solche, bei denen keine Sitze verloren gehen. „Eine Kombination der Formeln ist politisch nicht machbar“, so Pereira. Man könne höchstens darüber diskutieren, welche Formel passend sei, so der Portugiese.

Auch werden in einigen Änderungsanträgen zusätzliche Sitze für einzelne Länder eingefordert. In puncto „transnationale Listen“ wird von manchen wiederum die Einrichtung gemeinsamer Wahlkreise ab 2019 gefordert. Hierbei gibt es wiederum mehrere verschiedene Vorstellungen, wie viele Sitze solchen Listen zuerkannt werden sollen - für dieses Modell wurden Varianten mit 30, 43 und 50 Mandataren eingebracht.

„Sparsame Maßnahme“

Ausschussmitglied Kazimierz Michal Ujazdowski von der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer sieht das wiederum ganz anders: Abgeordnete sollten weiterhin nur auf nationaler Ebene gewählt werden, meint der Pole. Er spricht sich dafür aus, die gegenwärtige Zusammensetzung unverändert beizubehalten und die „Brexit“-Sitze einfach leer zu lassen. Besetzen könne man die Sitze ohnehin noch, meint der Pole, nämlich mit Mandataren neuer Beitrittsländer. Insgesamt sei das eine „sparsame Maßnahme“.

Den „Brexit“-Beauftragten des EU-Parlaments, Guy Verhofstadt von der liberalen ALDE-Fraktion, ärgert wiederum, dass in manchen Änderungsanträgen das Austrittsdatum bzw. gar der Austritt der Briten aus der EU infrage gestellt wird. Modelle zu skizzieren, die dieses Szenario nicht mit einschließen, seien „eine Missachtung der Europäischen Union“, so Verhofstadt. Die Wirklichkeit dürfe nicht „missachtet“ werden. Dem pflichtet auch Pascal Durand von den Grünen bei: Eine Debatte darüber sei nicht angebracht, dazu gebe es klare Statements von EU-Chefverhandler Michel Barnier, meint der Franzose.

„Begrenzte Denkweise“

Auch könne man jetzt die Chance nutzen, die Repräsentativität der kleineren und mittleren Staaten auszugleichen, so Durand und Verhofstadt unisono. An den Begehrlichkeiten aus einzelnen Ländern übte wiederum der Deutsche Helmut Scholz (Linke) Kritik. Man erkenne eine „Begrenztheit der Denkweise“, in dieser Frage werde nur nach nationalen Kriterien gedacht. Wer alles wolle, bekäme am Ende nichts, so Scholz. Der Deutsche Jo Leinen von der S&D-Fraktion ärgert sich wiederum, dass man eine „Europäisierung der Europawahlen“ - also transnationale Listen - überhaupt fordern müsse. Der ungarische FIDESZ-Abgeordnete György Schöpflin meint wiederum, dass transnationale Listen Europaskeptiker fördern würden.

Ein österreichischer Abgeordneter mehr?

Bis Ende November wird man aus dem Gewirr an verschiedenen Vorschlägen eine einheitliche Linie schaffen müssen, eine Woche davor sind die Änderungsanträge noch einmal Thema im Ausschuss. Noch im Dezember will der Ausschuss den Bericht im Plenum vorlegen. Das letzte Wort hat der EU-Rat. Dem derzeitigen Entwurf des Ausschusses zufolge würde Österreich einen Mandatar mehr stellen können - entsprechende Erwartungen hatten österreichische Abgeordnete zuletzt schon geäußert.

Link: