Vom „Brexit“-Schock zur Hofburg-Wahl
Das zu Ende gehende Jahr war voller bemerkenswerter politischer Wendungen und Umwälzungen, die sich in die Geschichtsbücher einschreiben werden: Mindestens zwei Ereignisse zeitigen wohl weitreichende und langfristige Auswirkungen, wenn auch unklar ist, wie diese genau aussehen werden: der „Brexit“ - der Austritt der Briten aus der EU - und die Wahl von Donald Trump zum nächsten US-Präsidenten.
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In ihren Grundfesten erschüttert wie noch nie wurde die Europäische Union (EU) am 23. Juni: In einem historischen Referendum stimmten die Briten mit 51,9 Prozent für den Austritt aus der EU. Ein knappes Rennen war zwar erwartet worden, doch die wenigsten hatten mit dem „Brexit“ wirklich gerechnet: allen voran auch nicht der „Brexit“-Initiator wider Willen, Premier David Cameron. Er erklärte nach dem überraschenden Ausgang seinen Rücktritt.

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Premierministerin Theresa May muss sich für einen komplexen Austrittsprozess wappnen
Es sollte nicht der einzige Abgang bleiben. Denn kaum hatte die UK Independence Party (UKIP) mit dem „Brexit“-Votum ihr Ziel erreicht, trat ihr Parteichef Nigel Farage zurück. Vielen wird seine Begründung - „Ich will mein Leben zurück“ - in Erinnerung bleiben. Das Ziel seiner politischen Laufbahn sei es gewesen, Großbritannien aus der EU zu lösen - „Mission erfüllt“, so Farage. Vor allem der Wunsch, den Zuzug insbesondere für EU-Bürger aus Mittel- und Osteuropa zu beschränken, war nach Analysen ein wichtiges Motiv beim Referendum.
Briten auf der „Achterbahn“
Der Kopf der „Brexit“-Kampagne und Favorit für die Nachfolge Camerons, Londons früherer Bürgermeister Boris Johnson, erklärte am 30. Juni, nicht für das Amt des Premierministers zur Verfügung zu stehen. Zum zweiten Mal in der britischen Geschichte gelangte schließlich mit Theresa May eine Frau an die Regierungsspitze. Als erste Personalentscheidung bestellte sie überraschend Johnson zum Außenminister.
Die Briten stellen sich mittlerweile auf einen turbulenten und komplexen EU-Austrittsprozess ein - in den Worten des Finanzministers Philip Hammond gleiche dieser einer „Achterbahn“. Der auf zwei Jahre angelegte Prozess kann aber erst beginnen, wenn London das Ausscheiden aus der EU nach Artikel 50 des EU-Vertrags beantragt hat. May kündigte an, das bis Ende März zu tun. Die heiße Phase der Austrittsverhandlungen könnte in die österreichische EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2018 fallen.
Verhinderter Umsturz in der Türkei
Schockwellen gab es auch in der Türkei: In der Nacht vom 15. auf den 16. Juli erschütterte ein Putschversuch von Teilen des Militärs das Land. Begonnen hatte alles mit einer Meldung über die Sperre der Bosporus-Brücke in Istanbul. Militärfahrzeuge hatten die Brücke blockiert. Schon kurz darauf gab es die ersten Proteste in Sozialen Netzwerken und auf der Straße - eine wichtige Rolle der Massenmobilisierung, die folgte, spielten nach eingehenden Datenanalysen auch die Moscheen.

Reuters/Yagiz Karahan
Jubel auf den Straßen Istanbuls am Tag nach dem niedergeschlagenen Putsch
Nach einer chaotischen Nacht mit Straßenkämpfen, Panzern in den Straßen, Luftangriffen auf das Parlament und fast 250 Toten wurde der Putschversuch niedergeschlagen. Was dann folgte, dauert bis heute an: Präsident Recep Tayyip Erdogan setzte zu einer „Säuberungswelle“ an. Schon am Tag nach dem Putschversuch wurden rund 3.000 Richter abgesetzt.
Maßgeschneiderte Verfassungsreform
Erdogan verhängte den Ausnahmezustand, in den folgenden Wochen und Monaten wurden Zehntausende Menschen verhaftet, Schulen, Zeitungen und Fernsehsender geschlossen - all das mit der Begründung, sie stünden der Bewegung des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen nahe, eines einstigen Weggefährten und nunmehrigen Gegners Erdogans, den dieser als Drahtzieher bezeichnete. Gülen wiederum stellte in den Raum, dass der Putschversuch inszeniert gewesen sein könnte.
Fest steht: Der Umsturzversuch hat die Macht Erdogans letztlich gefestigt. Erdogan dürfte nächstes Jahr eine ihm auf den Leib geschneiderte Verfassung bekommen, die ihm unter anderem das Regieren per Dekret ermöglichen wird. Das dafür erforderliche Verfassungsreferendum wird vermutlich im Sommer stattfinden. Mit Spannung wird erwartet, ob Erdogan auch Ernst macht mit seiner Ankündigung, die Todesstrafe wieder einzuführen.
Nationale Identitätspolitik als Erfolgsrezept
In Europa wuchs derweil die Sorge vor einem weiteren Erstarken von Nationalisten und Rechtspopulisten nach dem „Brexit“. Nationale Identitätspolitik schien weltweit das Erfolgsrezept der Stunde zu sein. Sie verhalf auch dem Republikaner Donald Trump in den USA zum Erfolg. Er wurde am 20. Juli beim Nominierungsparteitag der Republikaner endgültig zum Präsidentschaftskandidaten gekürt.

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„Amerika wieder groß machen“, das versprach Trump in seinem Wahlkampf und bei seiner Antrittsrede
Entgegen fast allen Prognosen errang Trump am 9. November nach einem beispiellos aggressiven Wahlkampf, der serienweise Tabus brach, den Wahlsieg. Er hatte Einwanderer, Muslime, Frauen und Menschen mit Behinderung beschimpft und sich gekonnt als Kandidat des Aufbruchs inszeniert - als Gegenpart zu seiner demokratischen Kontrahentin Hillary Clinton, die er als Verkörperung des Establishments darstellte.
Das Votum der „forgotten men“
Nach Trumps Sieg scheinen die USA gespalten wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Trump setzte praktisch ausschließlich auf Themen, die die weiße Arbeiterschaft und die untere Mittelklasse bewegen, auf die Sorgen der „forgotten men“ – das Pendant zum „kleinen Mann“. Im Wahlkampf wie auch bei seiner Antrittsrede versprach er, dass mit ihm „die vergessenen Menschen nicht länger vergessen“ sein würden. Monatelang war die weiße Mehrheit – auch wenn sie langsam schrumpft, sind das noch immer 70 Prozent der US-Bevölkerung – zuvor im Wahlkampf von vielen Experten und Medien als baldige Minderheit beschrieben worden.
Sogar bei den weißen Frauen schnitt Trump viel besser ab, als es die große Mehrheit der Prognosen erwarten ließ. Selbst ein Video, das Trumps sexistische und herabwürdigende Aussagen über Frauen aufdeckte, schadete ihm bei seinen Kernwählerinnen offenbar nicht.
Definition „post-truth“
Oxford Dictionaries definieren den Begriff „post-truth“ als Beschreibung von „Umständen, in denen objektive Fakten weniger Einfluss auf die Bildung der öffentlichen Meinung haben als Bezüge zu Gefühlen und persönlichem Glauben“.
Im Zeitalter des „Postfaktischen“
Nicht zufällig kürten die Oxford Dictionaries am 16. November das Wort „post-truth“ (postfaktisch) zum Wort des Jahres: Die Verwendung des Begriffs sei 2016 um 2.000 Prozent gestiegen. Sie habe im Zusammenhang mit dem „Brexit“-Votum deutlich zugenommen „und dann wieder im Juli, als Donald Trump sich die Nominierung zum republikanischen Präsidentschaftskandidaten sicherte“, so die renommierte britische Wörterbuchreihe in ihrer Begründung.
Unvergleichliches Rennen um Hofburg
Auch in Österreich wurde dieser Trend 2016 mehr denn je spürbar und kam zur Entfaltung: bei der Hofburg-Wahl, die wegen ihrer Ungewöhnlichkeit in die Annalen dieses Landes eingehen wird. Nachdem die erste Runde am 24. April mit einem deutlichen Vorsprung für den FPÖ-Kandidaten Norbert Hofer (rund 35 Prozent) geendet war, kam es zu einer Stichwahl zwischen ihm und dem zweitplatzierten vormaligen Bundessprecher der Grünen, Alexander Van der Bellen, der mit mehr als 21 Prozent die frühere OGH-Präsidentin Irmgard Griss (knapp 19 Prozent) auf Distanz halten konnte.

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Paukenschlag am 1. Juli: Die Hofburg-Wahl muss wiederholt werden
Die Kandidaten der Koalition, Rudolf Hundstorfer (SPÖ) bzw. Andreas Khol (ÖVP), waren indes mit jeweils elf Prozent ebenso chancenlos wie Baumeister Richard Lugner, für den sich nur gut zwei Prozent der Wähler entschieden. Die Stichwahl am 22. Mai endete mit einem denkbar knappen Erfolg für Van der Bellen (50,35 Prozent). Am Wahlabend lag noch Hofer vorne. Sein deutlicher Vorsprung bei den Wahlkarten verhalf aber schließlich Van der Bellen zum Sieg.
Aufgehoben und verschoben: Das Kleberdebakel
Doch lange währte die Freude im Van-der-Bellen-Lager nicht. Denn die FPÖ beschloss einige Tage nach der Wahl deren Anfechtung wegen mutmaßlicher Unregelmäßigkeiten bei der Briefwahlauszählung. Am 1. Juli erhielt sie recht: Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hob die Wahl auf und ordnet eine Wiederholung an. Die Höchstrichter orteten Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung der Briefwahlstimmen in 14 Bezirken und stießen sich daran, dass das Innenministerium Einzelergebnisse schon vor Wahlschluss unter anderem an Medien weitergegeben hatte. Neuer Wahltermin sollte der 2. Oktober sein.

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Hofer und der triumphierende Van der Bellen am Wahlabend des 4. Dezember
Doch es kam wiederum anders als vorgesehen: Nachdem eine größere Anzahl defekter Wahlkarten aufgetaucht war, teilte Innenminister Wolfgang Sobotka (ÖVP) am 12. September mit, dass die Wiederholung der Stichwahl verschoben werden müsse. Man könne „nicht abschätzen, wie viele und welche dieser Wahlkarten“ sich noch öffnen könnten. Als neuer Wahltermin wurde der 4. Dezember festgelegt. Wählen durften nach einer Gesetzesänderung nun auch jene, die seit dem ersten Wahlgang 16 Jahre al geworden waren.
Der Ausgang galt nach fast einjährigem Wahlkampf als völlig offen. Es war kaum vorhersehbar, wie sich gerade Trumps Wahlsieg und der „Brexit“ als hinzugekommene Faktoren auswirken würden. Wohl kaum jemand hatte damit gerechnet, dass bereits am 4. Dezember kurz nach der ersten Hochrechnung ein Sieger feststehen würde: Van der Bellen holte sich deutlicher als erwartet, was er bereits einmal gewonnen hatte. Er lag nach Auszählung aller Stimmen schließlich mit 53,79 Prozent vor Hofer (46,21 Prozent).
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