„Trostlose Aussichten“ für die Politik
Am 27. Oktober wollen Vertreter der EU und Kanadas das Freihandelsabkommen CETA unterschreiben. Der Vertrag ist nicht nur in der österreichischen Regierung höchst umstritten. Eine aktuelle Studie der Tufts University in den USA ist nun einmal mehr Wasser auf den Mühlen der CETA-Gegner.
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Laut der Studie, die von den Forschern selbst als Arbeitspapier bezeichnet wird, würde das Comprehensive Economic and Trade Agreement (CETA) zum Verlust Tausender Jobs in der EU und Kanada führen. Alleine in der Europäischen Union werden es bis zum Jahr 2023 mehr als 200.000 Arbeitsplätze sein, die verloren gehen, in Kanada 30.000 und im Rest der Welt 80.000.
Sinkende Löhne, schrumpfende Staatseinnahmen
CETA würde sich den Ökonomen der Tufts University zufolge auch auf die Einkommensverteilung auswirken. Der Anteil der Arbeitseinkommen am nationalen Gesamteinkommen würde sich aufgrund des Wettbewerbsdruckes, den die Unternehmen an die Arbeiter weitergeben würden, verringern, jener der Kapitaleinkommen würde dagegen steigen.
Die Lohneinkommen würden in Kanada pro Jahr um 1.776 Euro schrumpfen, in der EU wären es - je nach Land - zwischen 316 und 1.331 Euro. Am höchsten wären die Lohnverluste für Arbeitnehmer in Italien und Frankreich. Sinkende Löhne bedeuten geringere Steuereinnahmen für die Staaten, was wiederum den Studienautoren zufolge zu einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts führe.
Die Forscher gehen auch davon aus, dass CETA den Wettbewerbsdruck innerhalb der EU-Staaten verschärft. Deutschland, Italien und Frankreich würden vom Abkommen profitieren. Das gehe allerdings zulasten von Großbritannien und anderen EU-Staaten.
„Alternative Betrachtung“ der CETA-Vorteile
Das Arbeitspapier steht in Widerspruch zu anderen Studien, die weitgehend positive Auswirkungen von CETA sehen. Auch die EU-Kommission geht in ihren Berechnungen davon aus, dass CETA das Haushaltswachstum in der EU und in Kanada steigern wird. Brüssel verweist in diesem Zusammenhang gerne auf ein ähnliches Handelsabkommen zwischen der EU und Südkorea. In den ersten vier Jahren nach Inkrafttreten dieses Vertrags hätten die Exporte von Waren und Dienstleistungen deutlich zugenommen. Jede Mrd. Euro an Exporten sichere im Durchschnitt 14.000 Arbeitsplätze, heißt es in einer Broschüre der EU-Kommission.
Im Fall von CETA stellen die Ökonomen der Tufts University, allen voran der Herausgeber des Arbeitspapiers, Jeronim Capaldo, allerdings die Grundlage der EU-Berechnungen infrage. Sie seien unter der Annahme aufrechtbleibender Vollbeschäftigung und dem Ausbleiben von negativen Einflüssen auf die Einkommensverteilung erstellt und würden die wesentlichen Risiken einer tiefergehenden Liberalisierung ausklammern.
Dieses Manko an „intellektueller Vielfalt und Realismus“ verschleiere die Debatte um die behaupteten Vorteile von CETA und rufe nach einer alternativen Betrachtung, die auf solideren Modellannahmen beruhe, so die Studienautoren. Sie verwenden für ihre Berechnungen das Global Policy Model (GPM) der Vereinten Nationen (UNO).
Düsteres Szenario
Die Autoren ziehen zwei Schlüsse aus diesen „trostlosen Aussichten“ für die politischen Entscheidungsträger. Erstens, so schreiben sie, seien quantitative Studien von Grund auf blind gegenüber bewiesenen Risiken, die mit umfassender Liberalisierung zusammenhängen, und sie böten keine adäquate Basis für die Information über die Auswirkungen von CETA.
Zweitens sei der Versuch, die Exporte anzukurbeln, um damit die fehlende inländische Nachfrage zu ersetzen, keine nachhaltige Wachstumsstrategie für die EU oder Kanada. „Im derzeitigen Umfeld mit hoher Arbeitslosigkeit und geringem Wachstum kann die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit durch Verringerung der Lohnkosten nur der Wirtschaft schaden“, so die Studienautoren.
Sollten die politischen Entscheidungsträger CETA anwenden, hätten sie bald nur noch eine Möglichkeit, um angesichts wachsender sozialer Spannungen die Nachfrage zu beleben: die Erhöhung der privaten Kreditvergabe durch mehr Deregulierung, das Öffnen der Tür für nicht nachhaltige Verschuldung und finanzielle Instabilität. Stattdessen sollte die wirtschaftliche Aktivität durch koordinierte und anhaltende Unterstützung für Arbeitseinkommen und den Beginn eines sozial-ökologischen Wandels stimuliert werden.
TTIP und die Versäumnisse der Politik
Capaldo sorgte bereits vor zwei Jahren mit einer ähnlichen Studie zu den Auswirkungen des geplanten US-EU-Handelsabkommens TTIP für Aufsehen und Kritik von anderen Wirtschaftswissenschaftlern. Auf zehn Jahre gesehen würde TTIP zu einem Nettoverlust europäischer Ausfuhren führen, die Wirtschaftsleistung der EU-Staaten senken und mehr als 580.000 Arbeitsplätze vernichten, berechnete der italienische Ökonom damals.
Zudem mahnte er davor, „expansive Handelspolitik“ als Wachstumspolitik zu sehen. Der TTIP-Text an sich sei nicht das Problem, sagte Capaldo der „Presse“, „sondern das, was um ihn herum an europäischer Politik fehlt. Am bedenklichsten finde ich es, dass derzeit fast jedes EU-Land in der Stagnation ist und auf eine Rezession zusteuert.“ Nicht jedes Land könne so einfach seine Exportleistung steigern. Weiters sehe er „keine Weltregion, die ihre Importe ausreichend steigern würde, um damit Europas Wirtschaftsleistung zu steigern“.
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