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Angehörige in ihren eigenen Worten

Die Gruppe „Mediterranean Missing“ hat für ihre Studie über die Situation von Angehörigen toter und vermisster Flüchtlinge 85 von ihnen persönlich ausführlich befragt. Im Folgenden Auszüge aus einigen der Interviews:

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Syrerin, derzeit in Schweden, über ihren Ehemann, vermisst seit 13. September 2015, vier Monate später: "Wir sind am 13. September von Bodrum in der Türkei losgefahren. Unser Boot ist mit beinahe 152 Passagieren gekentert, das ist eine sehr große Zahl ... Es war stürmisch und die großen Wellen trafen unser Boot und schlugen es zurück, bis es auf einen Felsen traf und zu sinken begann, bevor wir die Insel erreichten. Mein Mann, ich und andere Leute neben uns haben uns aus den Luken des Bootes ins Meer geworfen und sind dann wieder zurück auf das Boot geklettert, als eine Riesenwelle es von uns fortgestoßen hat.

Meine Beine waren unter Wasser eingeklemmt, bis mein Mann sie befreite, dann entschieden wir uns, vom Boot wegzuschwimmen, bevor es vor unseren Augen gekentert ist. Wir sind in der Dunkelheit vier Stunden lang immer weitergeschwommen, aber die Küstenwache ist nicht gekommen, um uns zu retten. Dann ist mein Mann müde geworden und hat beschlossen, auf dem Rücken zu schwimmen. Er war hinter mir, aber wir konnten einander trotz des blinkenden Leuchtfeuers nicht sehen ... Plötzlich habe ich ihn nach mir rufen hören, dann verschwand er mitten im Meer und ich habe ihn seither nicht mehr wiedergesehen."

Syrer, derzeit in der Türkei, über seine Frau und seine beiden Kinder, vermisst seit 29. November 2015, zehn Wochen später: "Dann sind die Wellen höher geworden und das Boot ist umgekippt. Ich habe mich an der Seite des Bootes festgehalten und habe um Hilfe gerufen, meine Frau, meine Kinder. Sieben Kinder, fünf Mädchen und zwei Buben, zusätzlich zu meiner Frau. Ich habe Kamar, neun Jahre alt, Schahrasad, acht Jahre alt, Jana, sieben Jahre alt, Sajda, sechs Jahre alt, Islam, ein Monat alt, Mohamed, fünf Jahre alt, Omar, drei Jahre alt, und meine Frau, 28 Jahre alt. Ich habe versucht, sie zu retten, aber ich hatte keine Schwimmweste oder einen Schwimmreifen. Ich bin wohl zehn Mal getaucht und habe nach ihnen links und rechts Ausschau gehalten.

Ich blieb zwei Stunden so, auf dem Rücken schwimmend, und gab schließlich auf und fügte mich in Gottes Willen. Zweieinhalb Stunden später kam ein Fischerboot und leuchtete uns mit einem Scheinwerfer an. Sie haben uns gerettet. Die Überlebenden waren sechs von 23 Leuten, drei Männer und drei Frauen. (...) Nach elf Tagen begannen meine Kinder an die Oberfläche zu kommen, zu Beginn Sajda, zwei Tage später Schahrasad, Kamar und Mohamed. Ich sagte, das sind meine Kinder.

Jeden Tag gingen der Übersetzer und ich zur Polizei und zur Leichenschauhalle, um Körper zu identifizieren. Nach 40 Tagen fand ich meinen Sohn Omar. Er war 40 Tage lang im Meer. Ich erkannte ihn. Wenn Sie ihn gesehen hätten, es war vernichtend. Ich erkannte ihn an seinen Kleidern. Ich kaufte ihm Schuhe und Kleidung aus Izmir. (...) Ich warte noch immer auf meine Frau und meine Tochter Jana, sechs Jahre alt, und auf Islam, der einen Monat alt ist. Sie sind noch nicht an die Oberfläche gekommen."

Tunesierin, derzeit in Tunesien, über ihren 24-jährigen Sohn, vermisst seit 29. März 2011, fünf Jahre später: „Ich spüre inzwischen überhaupt nichts mehr. Meine Gefühle sind tot. Ich habe auf einen Telefonanruf gewartet, ich war sicher, dass er immer noch am Leben ist. Soll ich Ihnen die Wahrheit sagen? In Wahrheit weiß ich überhaupt nichts von ihm. Ich weiß nicht, ob er gestorben ist oder immer noch lebt; außer wenn ich anfange, an ein Wunder zu glauben in der Hoffnung, dass er noch leben und gesund sein könnte. Ich habe darauf gewartet, dass irgendwer mich anruft oder an meine Tür klopft.“

Syrerin, derzeit in Ägypten, über ihren Mann, vermisst seit 3. September 2014, 16 Monate später: „Sagt uns, ob sie lebendig oder tot sind (...) Das Mindeste, das sie tun können, ist, uns eine Antwort zu geben und sich vorzustellen zu versuchen, wie wir uns fühlen und uns einfach zu sagen, ob sie eingesperrt oder tot sind. Einfach zu fühlen, was wir durchmachen. Niemand hat mir mit irgendetwas geholfen, ich will es einfach ausgestanden haben. Es ist mein Recht, dass, wenn er - Gott behüte - tot ist, ich das weiß und einen Totenschein bekomme. Es ist mein Recht, die Obsorgeberechtigung über meine Kinder zu haben. Wenn er am Leben ist, möchte ich wissen, wo er ist und was er will, ich will ihm helfen.“

Tunesierin, derzeit in Tunesien, über ihren Sohn, vermisst seit 6. September 2012, fast vier Jahre später: „Wenn ich seine Freunde, seinen Bruder und seine Kleidung sehe, erinnere ich mich an ihn (weint). Wie kann ich vergessen. Ich versuche es zu vermeiden, den Schrank zu sehen, in dem seine Kleidung ist, ich fürchte mich davor, seinen Geruch zu riechen und erinnere mich daran, wie sehr ich ihn vermisse und schwach bin ...(weint). Wenn ich allein zu Hause bin, habe ich damit begonnen, mich umzudrehen und den Namen meines Sohnes zu schreien (weint), so als ob er da wäre und ich ihn rufen würde.“

Tunesierin, derzeit in Tunesien, über ihren 24-jährigen Sohn, vermisst seit 6. September 2012, fast vier Jahre später: „Bis heute hat es sich so angefühlt, als sei die Welt stehengeblieben. Nichts bewegt sich. Ich fühle nichts, das sich in diesem Leben bewegen würde. Seit mein Sohn weg ist, ist alles eingefroren. Die Luft, die Sonne, der Wind, der Regen, die Nacht und der Tag ... alles ist zum Stillstand gekommen bis heute und seit dem Tag seiner Abreise, weil ich immer noch einen Anruf von meinem Sohn erwarte. Ich bin für immer am 6. September 2012, nichts hat sich bewegt.“

Syrer, derzeit in Dänemark, über seine Cousins, zehn und zwölf Jahre alt, vermisst seit 28. Oktober 2015, 35 Tage später: „Deshalb haben mir meine zwei Freunde - einer war Amerikaner und der andere Däne - geholfen; weil sie blond und blauäugig waren und die Griechen uns deshalb ein wenig respektiert und geantwortet haben, so lange, bis wir das Büro betreten haben. Können Sie glauben, dass wir vor so einem kleinen Büro drei bis vier Stunden am Boden gesessen sind und immer wieder kommt jemand raus, schlägt uns die Tür vor der Nase zu und sagt ‚Kommt hier nicht wieder her‘ auf die rassistischste und beleidigendste Art, die es gibt?“

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