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„Komm wieder heim, du bist spät dran“

Alleine heuer sind trotz verstärkter europäischer Hilfsbemühungen laut UNO-Angaben über 3.000 Menschen bei der Flucht nach Europa im Mittelmeer ertrunken, seit 2014 waren es über 10.000. Angehörige bekommen kaum je eine Todesnachricht, auch wenn die Identität der Toten klar ist. Die Folgen dieser Ungewissheit sind weit größer als gedacht, wie nun erstmals eine Studie klarmacht.

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Die Untersuchung beruht neben der Erhebung von Zahlen, Daten und Fakten auf ausführlichen Tiefeninterviews mit 85 Angehörigen. Rund die Hälfte davon kommt aus dem Irak und Syrien, die andere Hälfte aus Tunesien - auch deshalb, weil die große Fluchtbewegung aus Tunesien schon etwa vier Jahre her ist und den Wissenschaftlern somit ein Urteil darüber möglich war, wie sich die Situation von Angehörigen Vermisster über die Zeit ändert. Bald war klar: Sie wird mit jedem Tag schlimmer.

„Er redet die ganze Zeit mit dem Foto“

Die traumatisierenden Folgen von Unsicherheit über Tod oder Leben von Angehörigen sind erforscht und bekannt. Müssen Familien mit solchen Situationen in ohnehin schon traumatisierenden Lebensumständen zurechtkommen, überschreitet das für viele die Grenze der eigenen Kräfte. Jede zehnte der interviewten Mütter vermisster Söhne in Tunesien etwa hat bereits mindestens einen Suizidversuch hinter sich. Väter kommen mit dem Verlust von Kindern tendenziell sogar noch schlechter zurecht.

Flüchtlinge werden aus einem Boot gerettet

APA/AFP/Italian Red Cross/Yara Nardi

Allein in den letzten Tagen wurden über 7.000 Menschen aus dem Mittelmeer gerettet

Eine Mutter sagte über ihren Mann und den vermissten gemeinsamen Sohn: „Er hat begonnen, seinen Sohn beim Vornamen zu rufen, wenn das Haus leer ist. Zum Glück hat er seinen Job bis jetzt behalten können. Seine Kollegen sind sehr nett zu ihm. Sie haben ihm ein Foto (mit seinem Sohn) vor dem Hintergrund von Mekka gemacht. Er redet die ganze Zeit mit dem Foto. Ich kann Ihnen sagen, das grenzt bei meinem Mann an Wahnsinn. Ich höre ihn manchmal mit unserem verschwundenen Sohn reden und sagen: ‚Na, komm schon, komm wieder heim, du bist spät dran.‘“

Unwahrheiten verbreiten sich wie Lauffeuer

Verzweifelt klammern sich viele an Vermutungen und Gerüchte. Gleich Dutzende der Interviewten gaben sich überzeugt, sie hätten ihre Angehörigen auf irgendeinem Foto in Sozialen Netzwerken oder in TV-Nachrichtenszenen wiedererkannt. Das macht sie auch zu Opfern von Betrügern: „Ein Mann hat sich gemeldet, der sagte, er wisse, wo mein Mann ist, aber es hat sich herausgestellt, dass er auf Geld aus war und mich zu bedrohen versucht hat. Der Mann hat sich bei Familien gemeldet, die Fotos von Vermissten gepostet hatten.“

Soziale Netzwerke nähren mit Gerüchten auch ein falsches Bild der Lage in Europa. Eine befragte Frau glaubt etwa nach Jahren noch an die Rückkehr ihres Ehemannes, weil Migranten „für bis zu sieben Jahre ... in Gefängnissen in Italien“ ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten würden. Gerade weil derartige Gerüchte die Hoffnung auf ein Überleben der Angehörigen ermöglichen, halten sie sich. Europa tut nichts, um das zu korrigieren.

„Ihre Telefone wurden ihnen weggenommen“

Es wäre für offizielle Stellen ein Leichtes, über Soziale Netzwerke mit den Angehörigen in Kontakt zu treten, unterstreicht die Studie, für die zahlreiche renommierte Universitäten, psychologische Institutionen und Organisationen unter dem Dach „Mediterranean Missing“ zusammenarbeiteten. Mit dem Wildwuchs von Desinformation schade sich Europa nicht zuletzt selbst, jede Unwahrheit ziehe in der Familie und unter den Bekannten jedes einzelnen Vermissten weitere Kreise.

Oft sind die Ansprechpartner der Angehörigen damit jene, die das größte Interesse an der Verbreitung von Lügen haben. Ein junger Mann gab etwa zu Protokoll: „Ich habe in den Nachrichten gelesen, dass einige Leute auf ihrer Reise ertrunken sind ... Ich habe sie sechs Tage lang gesucht, aber nichts in Erfahrung gebracht ... Ich habe den Schmuggler angerufen, der gesagt hat: ‚Deine Mutter und dein Bruder haben den Strand Hand in Hand erreicht ..., ihre Telefone wurden ihnen auf der Insel weggenommen.‘“

Zugang zu Sozialleistungen gekappt

Die Folgen der nachrichtenlosen Abwesenheit haben jedoch auch ganz konkrete Folgen für Angehörige, vor allem wenn Familienväter vermisst werden: Staatliche Leistungen hängen oft an dem Vermissten bzw. Toten. Nicht nur, dass die Herkunftsstaaten Hinterbliebene in solchen Fällen meist nicht unterstützen, oft werden auch staatlichen Zahlungen oder die Anbindung an Sozialleistungen gekappt, weil sich der Beziehungsberechtigte an einem „unbekannten Aufenthaltsort“ befindet.

Alleinstehende Mütter mit Kindern stehen oft vor unlösbaren Problemen. Oft haben sie nicht einmal die Obsorge über die eigenen Kinder oder trauen sich nicht, diese zu beantragen, weil das als Affront gegen den Vermissten gewertet würde. Eine Wiederverheiratung ist für die meisten ohnehin undenkbar: "... nur wenn er mich anruft und sagt: ‚Hallo, ich bin tot. Geh schon, such dir wen zum Heiraten.‘", sagte eine Frau im Interview sarkastisch.

Information an Angehörige wäre oft genug möglich

Nicht wenige suchen in extremer Religiosität ihre Zuflucht; gepaart mit einer Vorstellung eines Europa, das ihre Angehörigen ohne Kontakt zur Außenwelt einkerkert, eine gefährliche Mischung. Ohnehin hat Europa die gesetzliche Pflicht, Angehörige über das Schicksal von Vermissten zu informieren. Aus der Menschenrechtskonvention geht klar die Pflicht hervor, Tote nach Möglichkeit zu identifizieren und Leichname an Angehörige zu überstellen.

Dass trotz widrigster Umstände die Erfüllung der gesetzlichen Pflichten möglich ist, zeigt ein in der Studie angeführtes Beispiel, das allerdings nur auf persönliche Initiative zurückgeht: Der griechische Konsul im Irak und der irakische Konsul in Griechenland schlossen sich kurz und bauten im Alleingang einen funktionierenden Abgleich von DNA-Proben geborgener Leichen mit DNA-Proben von Familien auf, die Angehörige vermissten.

Wo Europas Fokus liegt

Doch auch bei ungeklärten Flüchtlingsschicksalen kann genug getan werden. Gerade unter Verweis auf die Aktivität in Sozialen Netzwerken fordert die Studie die Politik in Europa und den Herkunftsländern auf, Möglichkeiten zur Selbsthilfe anzubieten oder zu stärken. Wiederum gibt es ein Beispiel: Der tunesische Familienverband wurde gleichermaßen zufällig zu einem Forum für die dortigen Angehörigen von Vermissten.

Die Studienautoren stellten große Unterschiede von solchermaßen vernetzten Angehörigen zu jenen fest, die kein Ventil für ihre Sorge, Ungewissheit und Trauer hatten und so allein „auf der Innenseite eines Rätsels eingesperrt“ waren, wie einer von ihnen es formulierte. Der bittere Schluss der Studie lautet jedoch: Die Familien würden wohl so lange keine Fürsprecher in Europa finden, solange das vom politischen „Fokus auf zu schützende Grenzen“ ablenken würde.

Lukas Zimmer, ORF.at

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