Kern glaubt an Flüchtlingsdeal
Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu hat angesichts der aus der EU kommenden Kritik an seinem Land von einer „Türkei-Feindlichkeit“ gesprochen. „Wir haben uns wie kaum ein anderes Land angestrengt, alle Bedingungen für den EU-Beitritt zu erfüllen“, sagte er der deutschen „Bild“-Zeitung (Montag-Ausgabe).
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„Aber das, was wir jetzt von Teilen der EU erleben, sind ausschließlich Drohungen, Beleidigungen und eine totale Blockade“, so Cavusoglu. „Ich frage mich: Was haben wir verbrochen? Warum gibt es diese Türkei-Feindlichkeit?“
„Gefahr eines neuen Putschversuchs“
Die Massenfestnahmen von Anhängern des islamischen Predigers Fethullah Gülen, den die Türkei als Drahtzieher hinter dem Umsturzversuch vom 15. Juli ansieht, verteidigte Cavusoglu. Gülens „Terrororganisation“ sei „gefährlich“ und unterwandere seit 40 Jahren Justiz, Polizei und Militär. Es bestehe die Gefahr eines erneuten Putschversuchs. Cavusoglu zeigte sich enttäuscht, dass die Türkei danach nicht mehr Unterstützung erhalten habe. Die Europäer verstünden nicht, dass das türkische Volk „traumatisiert“ sei. „Sie demütigen uns, statt der Türkei zu helfen.“
Zur Debatte über die Visafreiheit für Türken, die Ankara im Zusammenhang mit dem Flüchtlingsabkommen ab Oktober zugesagt worden war, verwies Cavusoglu auf die Verträge. „Und wenn ich auf diese Verträge hinweise, reagieren plötzlich viele gereizt. Aber es kann nicht sein, dass alles, was für die EU gut ist, von unserer Seite umgesetzt wird, aber die Türkei dafür nichts bekommt.“
Angesichts der innenpolitischen Ereignisse in der Türkei und der dort geltenden Anti-Terror-Gesetze forderten zahlreiche Politiker in der EU, die Visafreiheit zunächst nicht umzusetzen. Zuletzt hatte Ankara mit der Aufkündigung des Flüchtlingsabkommens gedroht, sollte das Land nicht bis Oktober die Visafreiheit erhalten. Dann könnten wieder vermehrt Flüchtlinge in Griechenland eintreffen.
Kern: Deal unabhängig von Beitrittsgesprächen
Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) geht jedoch, wie er im Interview mit der APA erläutert, davon aus, dass auch die Türkei großes Interesse daran hat, den Flüchtlingsdeal mit der EU beizubehalten, weil sie sonst die Gesamtkooperation infrage stellen würde. „Wenn dieser Deal an der Illusion von Beitrittsgesprächen hängt, dann haben wir sowieso ein großes Problem“, meinte der Bundeskanzler.

APA/Harald Schneider
Kern will über „neue Form der Zusammenarbeit sprechen“
Kern rief dazu auf, einen Weg der Kooperation in der Wirtschafts-, Sicherheits- und Migrationspolitik mit der Türkei festzulegen, „der auch von Realitätssinn getragen ist“. Und: „Solange wir an der Fiktion der Beitrittsverhandlungen festhalten, nützen wir nicht die Zeit, um eine neue Form der Zusammenarbeit zu entwickeln.“
„Nichts mit Türkei-Bashing zu tun“
Mit „Türkei-Bashing“ habe das nichts zu tun, so Kern. Auf EU-Ebene werde man zur Forderung nach Abbruch der Beitrittsverhandlungen nun eine Initiative vorbereiten, die im Vorfeld mit anderen Regierungen abgestimmt werde, kündigte Kern an. Die Hypothese, dass man über einen Verhandlungsprozess die Türkei stärker an Europa binden kann, habe sich „als falsch“ herausgestellt. In diesem Zusammenhang wies Kern auch die Kritik von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker an seiner Forderung nach Abbruch der Beitrittsverhandlungen zurück.
Er sehe keinen Sinn darin, wenn Junker sage, man müsse Verhandlungen führen, aber die Türkei werde nicht beitreten. Hier wünscht sich Kern „deutlich mehr Klarheit“. An der Fiktion von Beitrittsverhandlungen festzuhalten führe „zu gar nichts, außer dass uns die Leute fragen, ob wir noch ernst zu nehmen sind, ob wir das Eintreten für Demokratie, Meinungsfreiheit und Pressefreiheit überhaupt noch ernst nehmen“.
Ausnahmezustand in Türkei „problematisch“
Kern bekräftigte, dass Österreich den Putschversuch in der Türkei „mit aller Vehemenz“ verurteilt und kein Verständnis und keine Sympathien für Gülen habe. Er verstehe auch die Verhängung des Ausnahmezustandes, betonte der Bundeskanzler, wie dieser aber genützt werde, sei „problematisch“.
Den Vorwurf, mit seiner Forderung nach Abbruch der Beitrittsverhandlungen Öl ins Feuer gegossen zu haben, kann Kern „ganz und gar nicht“ nachvollziehen. Auch dass er aus innenpolitischen Überlegungen gehandelt habe, sei ein „falscher“ Vorwurf.
„Hauptstadt des radikalen Rassismus“
Cavusoglu hatte Österreich wegen Kerns Forderung als „Hauptstadt des radikalen Rassismus“ bezeichnet. Ein Berater von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan schrieb via Internetkurznachrichtendienst gar an Kern: „Verpiss dich, Ungläubiger!“
Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) wies die Vorwürfe von Cavusoglu zurück, wonach Österreich ein Hort des radikalen Rassismus sei, und mahnte ihn zur Zurückhaltung. Der Streit dreht sich auch um die mögliche Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei nach dem gescheiterten Putsch und um Pro-Erdogan-Demos von Türken und Türkischstämmigen in Österreich. Die Reaktion Erdogans auf den Putschversuch hat in der EU neue Besorgnis über Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Medienfreiheit in der Türkei ausgelöst.
Weitere Entlassungen angekündigt
Auch vier Wochen nach dem gescheiterten Militärputsch kündigte Ankara weitere Massenentlassungen an. Betroffen seien das Außen- und das Innenministerium, sagte der stellvertretende Ministerpräsident, Numan Kurtulmus, am Montag. Auch beim Militär und bei der Küstenwache werde es nach einem entsprechenden Dekret Entlassungen geben. Zudem würden Militärhospitäler unter die Kontrolle des Gesundheitsministeriums gestellt.
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