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„Leistungsfähiger als wir glauben“

Die Flüchtlingskrise ist noch nicht einmal ansatzweise unter Kontrolle gebracht - da stellt sich schon die nächste Herausforderung: Wie können die Hunderttausenden Menschen, die bereits in Europa sind, integriert werden - insbesondere auf dem Arbeitsmarkt.

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Die Politik hat sich des Themas offiziell noch kaum angenommen - Europas Regierungen versuchen tendenziell, das Thema totzuschweigen. Oppositionsgruppen ihrerseits versuchen mit Sorgen in der Bevölkerung teils politisches Kleingeld zu machen. Der deutsche Arbeitsmarktexperte Holger Bonin vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) räumte im Interview mit ORF.at ein, dass das politisch ein heikles Feld sei. Es sei wichtig, die Balance zu finden zwischen dem Zugang für Migranten und Chancen für wenig qualifizierte heimische Arbeitskräfte.

„Kein Kuchen“

Hier sei eine „ehrliche Debatte“ nötig, es müsse mit falschen Vorstellungen darüber, wie der Arbeitsmarkt funktioniert, aufgeräumt werden. Eines der am weitesten verbreiteten Missverständnisse sei, dass in der Öffentlichkeit die Vorstellung vorherrsche, der Arbeitsmarkt sei wie ein Kuchen - also eine fixe Größe -, um den sich die Menschen streiten würden. Doch das sei schlicht falsch: Die Zahl der Jobs sei nicht fix. Vielmehr sei es so, dass Arbeitgeber dann, wenn die entsprechenden Arbeitskräfte da sind, zusätzliche Jobs schaffen, die sonst gar nicht entstehen würden, so Bonin am Rande einer Tagung zum Thema Migration und Arbeitsmarkt in der nordrhein-westfälischen Vertretung in Brüssel.

„Was wir aus vielen empirischen Studien über große Einwanderungswellen wissen, ist, dass die negativen Effekte, wenn es sie überhaupt gibt, extrem klein sind und nach sehr kurzer Zeit wieder verschwinden“, so der Ökonom. Er betonte zugleich, dass die Effekte in jede Richtung - auch positiv - „sehr klein“ seien. Für Österreich hatte das erst heuer das Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) berechnet: Es kam bei einer - mittlerweile natürlich überholten - Zahl von zusätzlich 40.000 Personen auf dem Arbeitsmarkt auf einen Anstieg der Arbeitslosigkeit von 0,023 Prozent.

Man müsse den Menschen die Ängste nehmen, so Bonin: „Wir können nur sagen, dass nach allem, was wir von Studien über die Wirkung in Arbeitsmärkte hinein wissen, die Folgen für die Höhe der Löhne wie für die Beschäftigung sehr gering sind.“

Beispiel Israel

Als besonders drastisches Beispiel nannte er Israel: Die Einwanderung russischer Juden nach dem Zerfall der UdSSR habe die Zahl der Jobsuchenden in Israel binnen kürzester Zeit um bis zu 40 Prozent in die Höhe schnellen lassen. „Das war ein viel größerer Schock, als wir ihn heute in Deutschland oder Österreich erleben“, so Bonin. Die Arbeitslosigkeit sei aber nur geringfügig gestiegen, nach ein, zwei Jahren seien diese kleinen Effekte wieder verschwunden. Bonin betonte, dass es in solchen Situationen natürlich Anpassungsprobleme gebe. Man dürfe das nicht kleinreden - aber eben auch nicht dramatisieren.

Bonin ist überzeugt: „Arbeitsmärkte sind viel anpassungsfähiger und leistungsfähiger, als wir das gerne glauben.“ Auch in der gegenwärtigen Flüchtlingskrise zeigt sich der Ökonom daher optimistisch: „Die Chancen, dass wir mehr Arbeitsplätze bekommen und nicht einfach einen Kuchen verteilen müssen, stehen sehr gut.“

„Müssen auf eigenen Beinen stehen“

Man dürfe die beiden Gruppen - also Flüchtlinge, die Beschäftigung suchen, und einheimische Arbeitslose - jedenfalls nicht „gegeneinander ausspielen“, warnte Bonin. Man müsse die Menschen rasch integrieren, alles andere führe zu „Isolierung und wirtschaftlicher Destabilisierung“. Einer der wichtigste Wege zur Integration in die Gesellschaft sei die Arbeit, da man so auch am besten die Sprache erlernen könne. Es sei einfach wichtig, dass die Menschen „wirtschaftlich auf eigene Beine kommen“. Auch andere Faktoren für eine erfolgreiche Integration - etwa eine Wohnung - hingen davon ab, ob man Arbeit habe.

Kritisch sieht Bonin in diesem Zusammenhang, dass der Zugang zum Arbeitsmarkt für Flüchtlinge und Migranten etwa in Österreich und Deutschland durch die Vorrangprüfung eingeschränkt ist: dass EU-Bürger bei einer offenen Stelle vorrangig genommen werden müssen. Laut Bonin hält das viele Arbeitgeber davon ab, Jobs überhaupt auszuschreiben.

„Chancen nicht größer, aber auch nicht kleiner“

„Ganz wichtig“ sei es, sich gleichzeitig um die einheimischen Arbeitslosen zu kümmern. In Deutschland etwa gebe es gerade bei Geringqualifizierten und Langzeitarbeitslosen weiter große Probleme. Diesen Menschen müsse man, auch um den sozialen Zusammenhalt zu gewährleisten, zusätzliche Angebote machen. Der Arbeitsmarktexperte betonte aber: Gerade diese Gruppen würden „nicht unmittelbar verdrängt durch die Leute, die jetzt hereinkommen“. Die Chancen für einheimische Arbeitslose würden in der Regel „dadurch nicht größer, aber eben auch nicht kleiner“.

Guido Tiefenthaler, ORF.at, aus Brüssel

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