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Scheitert Kompromisssuche?

Der EU-Streit über eine verpflichtende Quote zur Verteilung von Flüchtlingen droht zu eskalieren. Nach Tschechien und der Slowakei hat auch Litauen mit scharfer Kritik auf Forderungen aus Deutschland reagiert, EU-Staaten bei Ablehnung einer Flüchtlingsquote zu bestrafen.

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„Ich halte es für Erpressung, die völlig inakzeptabel ist - speziell für hochrangige Politiker, die dafür verantwortlich sind, dieses Problem zu lösen“, sagte Regierungschef Algirdas Butkevicius am Dienstag in Vilnius. Der Ton sei „unangemessen“ bei der Suche nach einem Kompromiss. Er sei überrascht, dass Vertreter Deutschlands dazu übergegangen seien, anderen Ländern „beinahe aggressiv“ vorzuschreiben, wie sie sich zu verhalten hätten, sagte Butkevicius der Nachrichtenagentur BNS zufolge.

Finanzielles als deutsches Druckmittel

Litauen ist ebenso wie andere Länder in Mittel- und Osteuropa gegen eine verbindliche Verteilung von Flüchtlingen. Der deutsche Innenminister Thomas de Maiziere und der deutsche Vizekanzler Sigmar Gabriel hatten sich für finanzielle Druckmittel ausgesprochen, um EU-Länder zu einer Quotenlösung zu bringen. Es könne nicht sein, dass Deutschland als Zahlerland in Europa auftrete „und alle machen mit, wenn sie Geld bekommen, und keiner macht mit, wenn Verantwortung zu tragen ist“, so Gabriel.

Die Flüchtlingskrise bedrohe die EU weit mehr als die Griechenland-Krise. „Und klar ist auch, wenn wir uns nicht einigen, dann ist die mittelfristige Finanzplanung Europas Schall und Rauch“, stellte der Vizekanzler deutsche Zahlungen für EU-Programme infrage.

Merkel als „Good Cop“

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel (CDU) gibt sich hingegen im Gegensatz zu De Maiziere und Gabriel gelassen und nimmt die gegenteilige Position ein. Sie lehnte am Dienstag Kürzungen von EU-Mitteln für Länder, die sich weigern, eine bestimmte Quote von Flüchtlingen aufzunehmen, ab: „Drohungen sind nicht der richtige Weg.“ Ein Sprecher der EU-Kommission winkte ab. Die derzeit laufenden EU-Programme könnten nur durch eine Änderung des EU-Finanzrahmens adaptiert werden, was nicht geplant sei. „Es ist nicht die intelligenteste Art der Erpressung, aber die Frage kommt auf“, sagte ein EU-Diplomat.

Experte skeptisch über mögliche Einigung

Starke Zweifel, dass die EU es noch schafft, rasch die benötigte gemeinsame Position in der Flüchtlingskrise zu finden, hat der Migrationsexperte des Brüsseler Thinktanks European Policy Centre (EPC), Yves Pascouau. Das werde nicht gelingen, und er sprach daher im ORF.at-Interview von einem „Test für die EU-Integration“.

Nach dem im Wesentlichen ergebnislosen Treffen der EU-Innenminister zeichne sich ein „negatives Bild“, so Pascouau. Er sieht nun drei Szenarien, wie es weitergehen kann: Entweder man einigt sich noch auf eine verpflichtende Quote, oder es gibt eine Abstimmung im nächsten Innenministerrat, sprich die Visegrad- und baltischen Länder werden überstimmt und gezwungen, Flüchtlinge aufzunehmen. Die Situation sei jedenfalls bereits extrem emotionalisiert. Ein Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs könnte in dieser Situation im Wesentlichen nur versuchen, die Gemüter etwas zu beruhigen.

Merkels Fehler

Pasqouau wirft den Mitgliedsländern vor, noch immer unilateral zu denken und nicht zu berücksichtigen, welche Folgen für die ganze Gemeinschaft die Entscheidung einer nationalen Regierung in Asyl- und Migrationsfragen habe. In dieser Hinsicht kritisierte der Experte auch die deutsche Kanzlerin, auch wenn er sie zugleich für ihre humanitäre Geste lobte.

Die Innenminister hätten auch noch nicht verstanden, dass sie auf EU-Ebene arbeiten müssten. Pascouau tritt für eine stärkere Vergemeinschaftung der Asyl- und Migrationsagenden ein - also die Verlagerung der Zuständigkeit von den Hauptstädten nach Brüssel. Der Migrationsexperte betont zudem, dass das Thema bei den Innenministern längst nicht mehr richtig aufgehoben sei - denn es spiele stark in viele andere Ressorts wie Außenpolitik, Verteidigung, Wirtschaft und Landwirtschaft hinein.

Überstimmen als Möglichkeit?

Die osteuropäischen Staaten, die sich vehement gegen die Einführung einer Flüchtlingsquote zur Verteilung von Asylbewerbern in Europa sträuben, dürften bei einem der nächsten Treffen der EU-Innenminister überstimmt werden. Das sagte ein ranghoher Vertreter eines der betroffenen osteuropäischen Länder am Dienstag in Brüssel.

Somit könnte die Verteilung von weiteren 120.000 Flüchtlingen gegen den Widerstand der Visegrad-Staaten (Ungarn, Tschechien, Polen, Slowakei) und der baltischen Länder rein rechtlich mit einer qualifizierten Mehrheit beschlossen werden. Beim Sondertreffen der EU-Innenminister am Montag fand dazu noch keine Abstimmung statt. Die Quote sei noch nicht tot, sagte ein ranghoher EU-Diplomat in Brüssel. Der Rat werde sie mit qualifizierter Mehrheit beschließen, das Problem des Flüchtlingsansturms werde dadurch aber nicht gelöst werden. Es mache daher auch keinen Sinn, einem EU-Land eine Quote „aufzuzwingen“.

Ungarn beklagt, dass es nicht wie ein Erstaufnahmeland so wie Griechenland und Italien behandelt werden will. Nach der Dublin-Verordnung ist das Erstaufnahmeland in der EU für Asylverfahren zuständig. Daher ist Ungarn dem Vernehmen nach auch vehement gegen den Juncker-Plan, obwohl von 120.000 Flüchtlingen 54.000 aus Ungarn auf andere EU-Staaten verteilt werden sollten. Auch gegen die Einrichtung von „Hotspots“ zur Registrierung von Flüchtlingen auf seinem Staatsgebiet wendet sich Ungarn. Ein ranghoher Diplomat sagte am Dienstag: „Wir reden seit vier Monaten über Hotspots, ohne zu wissen, was das bedeutet.“

Faymann: „Mehrere Sitzungen nötig“

Auch Kanzler Werner Faymann (SPÖ) kann sich den Beschluss einer EU-Flüchtlingsquote ohne die kritischen osteuropäischen Staaten vorstellen. „Es ist möglich, dass man eine Koalition des guten Willens macht“, sagte Faymann am Mittwoch im Ö1-Morgenjournal. „Man sollte nur die anderen nicht aus der Verantwortung lassen und mitteilen, es ist alles freiwillig, denn dann funktioniert es nicht.“ Hoffnungen auf eine rasche Lösung der Krise macht sich der Kanzler nicht. Es würden „mehrere Sitzungen nötig sein“, bis innerhalb der EU eine Lösung gefunden werde.

Europarat „besorgt“ über Ungarn

Die von Ungarn erlassenen Gesetze zur Eindämmung des Flüchtlingsandrangs verstoßen nach Einschätzung des Europarates womöglich gegen die Europäische Menschenrechtskonvention: Er fordere von Ungarns Regierungschef Viktor Orban die Zusendung des vollständigen Gesetzestextes, erklärte Europarats-Generalsekretär Thorbjörn Jagland am Dienstag. Dann werde er prüfen, ob die Gesetze in Einklang mit der Konvention stehen. Besonders „besorgt“ sei er von dem Gesetz, das eine „massive Einwanderung“ als Grund einführe, um den „Krisenzustand“ auszurufen, heißt es in Jaglands Erklärung. Er werde von Budapest die Zusicherung verlangen, dass die Menschenrechtskonvention auch im Krisenzustand vollständig respektiert werde.

Das ungarische Parlament hatte kürzlich mehrere Gesetze verabschiedet, die in der Nacht zum Dienstag in Kraft traten. Demnach kann nun jeder Flüchtling, der illegal über die Grenze tritt, drei Jahre ins Gefängnis gesteckt werden. Die Grenze zu Serbien ist inzwischen komplett mit einem Stacheldrahtzaun verriegelt. Am Dienstag kündigte die Regierung an, es werde nun auch an der Grenze zu Rumänien einen Zaun errichten.

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