Ein Tag, ein Berg, acht Tote
Zum Auftakt der Filmfestspiele von Venedig ist Anfang September die Vorführung des Bergsteigerdramas „Everest“ von Regisseur Baltasar Kormakur auf dem Programm gestanden. Der Film, der gleich am ersten Abend sehr viel Prominenz in die Lagunenstadt lockte, feierte an dem Abend zwar seine Vorpremiere, lief aber nicht im Wettbewerb des Festivals.
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Der isländische Regisseur Baltasar Kormakur („Contraband“, „2 Guns“) versammelte eine Riege an Hollywood-Stars und drehte in Nepal, Südtirol und in den Cinecitta-Studios in Rom ein 3-D-Abenteuerdrama, das eine Hommage an den Mount Everest werden sollte, und mit der er gleichzeitig die Geschichten der Beteiligten möglichst wahrheitsgetreu erzählen wollte.
„Weil er da ist“
Die Motive, den Everest zu besteigen, sind vielleicht vielfältig, das für Extrembergsteiger schlagende Argument prägte George Mallory, einer der Bergpioniere der 1920er Jahre: „Weil er da ist.“ Mit der zunehmenden Kommerzialisierung des Berges in den 1990er Jahren wurde der Everest von Jahr zu Jahr von mehr Hobbykletterern frequentiert, die diesem Motto noch ihr eigenes ehrgeiziges „Weil ich es kann“ hinzufügten.
Seit der Erstbesteigung im Jahr 1953 bis heute strafte das Schicksal diesbezüglich fast 300 Menschen Lügen. Wie auch Mallory ließen sie ihr Leben am höchsten Berg der Welt - durch gesundheitliche Probleme in der sauerstoffarmen Höhe, durch mangelnde Bergerfahrung, Fehlentscheidungen oder durch die nie zu 100 Prozent vorhersehbare höhere Gewalt - Stürme, Nebel, Lawinen.
Eine Serie von unglücklichen Ereignissen
Im Frühjahr des Jahres 1996, einem geplanten Gipfelsiegrekordjahr, verketten sich diese Gründe zu einer Serie an Unglücken. Am 10. Mai 1996 drängten mit mehreren Expeditionen so viele Menschen wie nie zuvor auf den Berg - und so viele wie nie zuvor an einem Tag, insgesamt acht, starben dabei.

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Baltasar Kormakur am Set von „Everest“
Die Ereignisse sind bestens dokumentiert in den Biografien der Überlebenden, die jeweils aus ihrer Sicht - einander teils widersprechend - die Entwicklungen wiedergaben. „Der Großteil der Aufzeichnungen, die es über dieses Ereignis gibt, sind Augenzeugenberichte aus jeweils nur einer Perspektive. Wir haben versucht, möglichst viel über möglichst viele der Protagonisten zu erfahren,“ erzählte Kormakur bei der Pressekonferenz vor der Premiere in Venedig.
Gipfeltreffen der gegensätzlichen Charaktere
Angesichts der vielen Schicksale war das ein recht ambitioniertes Vorhaben für einen zweistündigen Film, schließlich trafen 1996 in Nepal Dutzende spannende und höchst gegensätzliche Charaktere aufeinander. Etwa die beiden Expeditionsleiter Rob Hall (Jason Clarke) von Adventure Consultants und Scott Fischer (Jake Gyllenhall) von Mountain Madness, die in freundschaftlicher Konkurrenz versuchten, die zahlende Kundschaft auf den Berg zu schaffen und dabei beide ums Leben kamen.
Eines der Einzelschicksale, die „Everest“ im Speziellen ausstellt, ist jenes des amerikanischen Pathologen Beck Weathers (Josh Brolin), der das Unglück überleben sollte - obwohl er in der Nacht am Berg zurückgelassen wurde. Er konnte sich mit schwersten Erfrierungen gerade noch ins Lager schleppen. Seine Autobiografie „Für tot erklärt - Meine Rückkehr vom Mount Everest“ diente den Drehbuchautoren William Nicholson und Simon Beaufoy unter anderem als Vorlage für den Film, genauso wie John Krakauers internationaler Bestseller „In eisige Höhen“, der nur ein Jahr nach der Katastrophe erschien.

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Stets hinter Brillen, Bärten und Daunenanzügen getarnt: Gyllenhall und Brolin
Anders als Weathers wurde dem Journalisten Krakauer in „Everest“ dennoch nur eine (nicht unbedingt schmeichelhaft gezeichnete) Nebenrolle zuteil. Auch schillernde Gestalten wie Sandy Hill Pittman (Vanessa Kirby), die während der Expedition live via NBC nach Amerika berichtete und die dänische Journalistin Lene Gammelgaard (Charlotte Boeving), die in Fischers Expedition als erste skandinavische Frau den Gipfel des Mount Everest erreichte, lässt Kormakur weitgehend unbeleuchtet.
Frauen, die auf Telefone starren
Aufgrund der Konzentration von „Everest“ auf die Adventure-Consultants-Expedition, in der mit Yasuko Namba (Naoko Mori) nur eine (recht schweigsame) Frau mitkletterte, ist „Everest“ dann auch ein Männerabenteuerfilm mit klischeehaftem Rollenbild: Die Ehefrauen (gespielt von Keira Knightley und Robin Wright) bangen zu Hause um das Leben ihrer heldenhaften Männer, im Base Camp warten Lagerleiterin (gespielt von Emily Watson) - „Sie wird eure Mutter sein“ - und Ärztin (Elizabeth Debicki) mit Tränen in den Augen auf die Rückkehr der Expedition.
Hinweis
„Everest“ ist ab 17. September regulär im Kino zu sehen.
Ohne die vorherige Lektüre einer oder mehrerer Biografien dürfte es nicht immer leicht fallen, sich auf dem Filmberg und zwischen all den bärtigen, vermummten, vereisten und eingeschneiten Protagonisten zurechtzufinden. Trotzdem entwickelt „Everest“ einen starken Sog - in der ersten Stunde nach oben, zum sonnenbeschienenen Gipfel, in der zweiten nach unten, weg von Schneestürmen und tödlichen Kanten.
Die Todeszone in 3-D
Auch wenn das Attribut „bildgewaltig“ im Zusammenhang mit Katastrophenfilmen inflationär verwendet wird - für „Everest“ hat es seine absolute Berechtigung. Dank 3-D-Technologie nimmt Kormakur das Publikum mit in die schwindelerregenden Höhen des 8.848 Meter hohen Berges, lässt tief in die Gletscherspalten des Khumbu-Eisfalls blicken und beeindruckt mit spektakulären Kamerafahrten entlang der abfallenden Steilwände.
Traumhafte Sonnenaufgänge und glitzernde Eisfelder kitzeln selbst aus weniger hochgebirgsaffinen Zuschauern einen Hauch Verständnis für die Sehnsucht nach dem Himalaya-Abenteuer heraus. Ein Verständnis, das freilich schnell wieder verschwinden kann, wenn in Sekundenschnelle (wenngleich nicht weniger schön anzusehen) surreale Gewitterwolken über den Gipfeln aufziehen und der Sturm verdeutlicht, warum die Todeszone in über 7.000 Metern Höhe so genannt wird. „Der Berg hat immer das letzte Wort“, heißt es im Film. In „Everest“ hat er nicht nur die Titel- sondern auch die Hauptrolle, in der er ein hochkarätiges Hollywood-Ensemble immer noch locker an die Wand spielt.
Sophia Felbermair, ORF.at
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