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Rettung vor der Hitze

Wenn die Städte und ihre Bewohner im Sommer in der Gluthitze brüten, dann wird der Ruf nach mehr Grünraum in der Stadt wieder lauter. Baulücken sind jedoch rar, ungenützten Platz gibt es vor allem auf Dächern. Dachgärten sind die eierlegenden Wollmilchsäue für Stadtplaner: Sie reinigen Luft und Wasser, isolieren Gebäude und senken die Temperatur in aufgeheizten, dicht bebauten Grätzeln.

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In den vergangenen Wochen jagte ein Hitzerekord den nächsten: heißeste Nacht (knapp 27 Grad), ein Rekordhoch bei den Hitzetagen und ein Juni, der weltweit noch nie heißer war. Betrachtet man die langfristige Entwicklung, wird sich dieser Trend fortsetzen. 2015 soll laut der US-Behörde Nationale Ozean- und Atmosphärenverwaltung das wärmste Jahr der Aufzeichnungen werden.

Das Mikroklima im Grätzel

Die sommerliche Hitze wird in der Stadt zunehmend zum Problem. Die dichte Bebauung und die Versiegelung der Böden verstärken die Hitze, speichern sie und verhindern in den Nachtstunden ein Sinken der Temperatur. Es entstehen Hitzeinseln - auch bekannt als „Urban Heat Islands“.

Stadtpolitiker rühmen sich gerne, dass die Hälfte Wiens aus Grünland besteht. Für den Unternehmer und Landschaftsplaner Gerold Steinbauer ein fadenscheiniges Argument: „Wien hat riesige Ackerflächen im 22. Bezirk und riesige Parks wie den Prater oder die Lobau. Wenn man im achten Bezirk wohnt, helfen einem diese Grünflächen wenig.“ Dass das Mikroklima von Grätzel zu Grätzel unterschiedlich sein kann, werde gern vergessen, so Steinbauer im Gespräch mit ORF.at.

Vegetation versus Dachziegel

Rot gegen Grün - hier nicht im politischen Sinn gemeint - lautet der Kampf auf den Temperaturkarten der Stadt, wo eine Farbskala zwischen Hellgrün und Dunkelrot die Temperatur angibt. Analog dazu findet man den Farbenkonflikt auch in der Stadt: das Rot der Dachziegel gegen die Grünflächen. In den Innenstadtbezirken ist der Prozentanteil des Grün am geringsten. Die Bezirke Mariahilf, Neubau und Josefstadt haben alle nur gut zehn Prozent Grünanteil.

Grafik zeigt Nettogrünflächen in Wiener Bezirken

Grafik: ORF.at; Quelle: Grünraummonitoring Wien 2005

Die Prozentanteile aller Grünflächen an der gesamten Stadtfläche inklusive Straßen zeigen, wie unterschiedlich „grün“ die Wiener Bezirke sind

Der Platz, neue Parks zu bauen, ist kaum vorhanden. Das Potenzial liegt auf den Dächern der Stadt, dort ist ungenützter Raum en masse vorhanden. Insgesamt ist die gesamte Wiener Dachfläche so groß wie die Bezirke Favoriten und Simmering zusammen, in Zahlen: 5.242 Hektar. Davon ist nur ein kleiner Teil begrünt. Nur circa fünf Prozent der Flächen beherbergen Gräser, Moos, Bäume oder sogar Teiche. Den größten Bestand an begrünten Dächern hat die Donaustadt mit 34 Hektar (Stand 2010).

Gerold Steinbauer und Vera Enzi auf ihrer begrünten Dachterrasse

ORF.at/David Tiefenthaler

Grüne Dachoase auf dem Büro des VfB: Steinbauer (l.) und Enzi (r.)

Steinbauer und Vera Enzi sind so etwas wie die Apostel der Dachbegrünung in Wien: er als Obmann des Verbands für Bauwerksbegrünung (VfB), sie als Landschaftsplanerin, die an der Universität für Bodenkultur (BOKU) lehrt, wie man richtig Dächer begrünt. Die Liste an Vorteilen, die Gründächer bieten, ist laut den beiden imposant. „Begrünung ist die einzige Variante, wie Hitze vernichtet werden kann. Mit Klimaanlagen und Isolierungen wird sie nur verlagert“, stellt Steinbauer klar.

Entlastung für die Kanalisation

Ein weiterer Effekt ist die Speicherung des Regenwassers. Ist ein Dach mit Pflanzen bedeckt, so fließen nur 30 Prozent des Niederschlags in den Kanal, der Rest wird von der Vegetation gespeichert, verdunstet oder wird verspätet abgegeben. Derzeit findet das Wasser auf den meisten Dächern seinen Weg direkt von der Dachfläche in die Kanalisation, wo es dann schleunigst die Stadt verlässt. „Eigentlich brauchten wir aber genau das Wasser, um die Stadt im Sommer zu kühlen“, so Enzi.

Wenig Verständnis bringen die beiden Landschaftsarchitekten einem Projekt der Stadt Wien in Simmering entgegen. Dort wird 2016 ein Speicherbecken fertiggestellt, das 35 Millionen Liter Regenwasser fasst. Das 30 Mio. Euro teure Rückhaltebecken soll eine Überlastung der Kanalisation verhindern. Bei einem Quadratmeterpreis von 25 Euro hätte man mit diesem Geld „120 Hektar Dachfläche extensiv begrünen können“, meint Steinbauer. Das käme einer 50-prozentigen Steigerung der Wiener Gründachfläche und der doppelten Wasserspeicherkapazität des geplanten Rückhaltebeckens gleich.

Die Neigung macht’s aus

Ob sich ein Dach als Pflanzenhabitat eignet, hängt hauptsächlich von der Schrägheit des Daches ab. Bis fünf Grad Neigung kann ein Dach intensiv begrünt werden, praktisch also zum Garten gemacht werden. Mindestens 30 Zentimeter Substrat braucht man, dann können bereits kleinere Sträucher gepflanzt und Gemüsebeete angelegt werden. Bis 20 Grad Neigung kann man Dachschrägen ohne Zusatzmaßnahmen extensiv begrünen, also mit Gräsern, Moosen und ähnlichem Kleinwuchs.

Begrüntes Dach in der Wiener Sargfabrik

Sargfabrik/Wolfgang Zeiner

Auf dem Dach des Wohnprojekts Sargfabrik grünt und sprießt es

Der Hauptpunkt, den es bei der Errichtung von intensiven Dachbegrünungen zu beachten gilt, ist die Statik. Viele Dächer halten den hohen Belastungen bei intensiver Begrünung nicht stand. „Es ist immer einfacher, einen Dachgarten gleich beim Bau einzuplanen, nachträglich ist die erforderliche Statik meist schwer zu realisieren“, so Steinbauer. Passiert ist das etwa in der Sargfabrik, einem integrativen Wohnprojekt, bei dem die Bewohner schon in die Planungsphase miteinbezogen wurden. „Meist sind es solche integrativen Bauten, die grüne Dächer haben. Der soziale Faktor ist nicht zu unterschätzen“, sagt Enzi.

„Etage vert“ von der Stadt forciert

Wo eine Nutzung möglich ist, zeigt ein sogenannter Gründachpotenzialkataster. So wird für jeden Bürger klar ersichtlich, ob sich das Dach seines Hauses für ein Gründach eignet. Von der Stadt wird die Begrünung gefördert, pro Objekt können maximal 2.200 Euro an Unterstützung bewilligt werden. Man wolle die Bürger mit positiven Anreizen zum Bau von Gründächern bewegen, anstatt mit „Regulativen dazwischenzufahren“, sagt Enzi über die Stadtpolitik. Bei kleinen Dachflächen ist die Förderung von 2.200 Euro hilfreich, bei größeren Projekten kann man mit der Summe nicht viel ausrichten.

Einen anderen Weg, die „wuchernden“ Dächer zu forcieren, hat Deutschland gewählt. Ein Kanalgebührensplitting regelt den Preis für die Kanalisation. Je weniger Wasser das Haus durch den Kanal verlässt, desto weniger Gebühren müssen bezahlt werden. Die aktuelle Regelung in Österreich ist vor allem eine „Subvention von Industriebetrieben“, die große Dachflächen haben, sagt Steinbauer.

Dachbegrünungen verordnet

Ein richtungsweisendes Gesetz wurde in Frankreich im März beschlossen: Wie der „Guardian“ berichtete, müssen neue Dächer von Geschäftsgebäuden entweder begrünt oder mit Solarpanelen ausgestattet werden. Ein umfassenderes Gesetz erließ Toronto 2009, seitdem entstanden laut Stadtverwaltung 260 neue grüne Dächer. Ab 2.000 Quadratmeter Dachfläche müssen dort bis zu 60 Prozent des Daches begrünt werden. Besonders hohe Büro- und Fabrikgebäude fallen in die Regelung.

Wiener Stadtbahnviadukt von der Spittelau nach Heiligenstadt

APA/Andreas Tröscher

Eine ungenützte Fläche, geeignet zur Dachbegrünung: die brachliegende Stadtbahntrasse im 19. Wiener Gemeindebezirk Döbling

In Wien ist die Dachbegrünung über den Flächenwidmungsplan geregelt. Dieser sieht - je nach Gebiet - unterschiedlich große Grünflächen auf Dächern vor. In der Seestadt Aspern, dem Stadtentwicklungsgebiet am Rande Wiens, müssen beispielsweise schon 60 Prozent der Dächer mit Pflanzen ausgestattet sein. Ein praktischer Nebeneffekt: Die Fotovoltaikanlagen liefern durch die natürliche Kühlung des Daches eine höhere Energieausbeute. Je heißer es ist, desto weniger Strom produzieren sie: Der optimale Wirkungsgrad wird bei 20°C erreicht.

David Tiefenthaler, ORF.at

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