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Die Peripherie wird zum Zentrum

Die aktuelle Saison ist besonders ergiebig, was heimische Autoren betrifft. Seit Februar sind Dutzende Bücher erschienen, die nicht nur lesens-, sondern auch erinnernswert sind.

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Es gibt in Österreich Generationen an Schriftstellern, die tendenziell aus der Offensive heraus schreiben, und solche, die defensiv agieren. Die Nachkriegsgeneration, das war der Aufbruch aus dem Mief Richtung etwas Neuem, Eigenen und der Angriff gegen die Ewiggestrigen. Bis weit in die 80er Jahre hinein hielt dieses Gefühl an. Danach, spätestens ab den 90er Jahren, folgte die Generation jener, die einen Abwehrkampf führten.

Wer maßgeblich in den 90er oder Nullerjahren sozialisiert wurde, also Autoren, die zwischen 25 und 50 Jahre alt sind, die hat man an der Uni gelehrt, dass die Geisteswissenschaften nichts wert sind, außer vielleicht, weil sie im Einzelfall multitaskingfähige, kreative Geister für studienferne Wirtschaftsberufe hervorbringen. Und dann als Schriftsteller: Verkauft wird, was in großen Verlagen erscheint und von den großen Kaufhäusern gepusht wird. Für alle anderen gilt: Rückzugsgefecht und Kampf um die Fördertröge.

Mit High Heels in der „Loos Bar“

Wer sich da nicht einfügt und vorprescht, macht das mit dem Gestus eines „Trotzdem“ oder „Jetzt erst recht“. Da liegt als Kalauer „Jetzt erst Knecht“ nahe, der Kolumnentitel von Doris Knecht im „Kurier“. Sie ist trotz Promibonus ein Beispiel dafür, wie Autoren ihre Haltung in produktive Energie umwandeln, auch dort – und gerade dort -, wo Protagonisten in den Büchern auftauchen, die in die Defensive geraten sind. Wie Marian, Hauptfigur in „Wald“, Knechts jüngstem Buch, nachdem sie für „Gruber geht“ (zuletzt verfilmt) und „Besser“ von der Kritik gelobt worden war.

Marian ist eine, die über den Dingen steht. Eine aufstrebende Designerin. Ein Kraftlackl. Aber auch eine, die dysfunktionale Beziehungen so lange zu Tode analysiert, bis sie von selbst zerfallen. Die dann wieder mit High Heels in der „Loos Bar“ sitzt und auf den nächsten Kandidaten wartet. Just, als sie ihr Mini-Designimperium zu einem richtigen ausbaut, raubt ihr die Wirtschaftskrise den Großteil der Kunden. Was folgt, ist die totale Pleite – aber so richtig.

Fünf Bücher liegen im Gras

ORF.at/Christian Öser

Schwammerl suchen? Uncool

Plötzlich sitzt Marian allein in dem abgehalfterten Häuschen der verstorbenen Tante. Die einen haben sie verlassen, vor den anderen versteckt sie sich aus Scham. Was für manche ein Traum wäre, ist für sie ein Alptraum: im Bacherl fischen statt „Motto am Fluss“, Schwammerl suchen statt in der „Loos Bar“ herumhängen und statt dem coolen Typen an der Bar: Franz. Franz, mit dem sie schläft. Der ihr Dinge mitnimmt, die sie sich jetzt nicht mehr leisten kann. Einfache Dinge – überlebenswichtige.

Das ist die Ausgangslage, und von hier aus heben Knecht und mit ihr Marian ab. Die neue Langsamkeit ermöglicht eine Vogelperspektive auf die Grundsätzlichkeiten des Lebens aus immer größerer Distanz. Und zusehends wird so einiges, was früher wichtig erschien, unwichtiger - und das große Drama der Existenz an der Peripherie relativiert sich. Selbst Franz ist plötzlich nicht mehr einfach nur Franz. Knechts schnoddrig-schöne Sprache nähert sich in konzentrischen Loops dem Bull’s Eye ihres überaus lesenswerten Buchs.

Doris Knecht: Wald. Rowohlt Berlin, 271 Seiten, 20,60 Euro.

Krude und scharfsinnig zugleich

In die Peripherie schickt auch Wolfgang Popp das Personal seines dritten Romans „Die Verschwundenen“, der in drei Teile gegliedert ist. Im ersten hat sich Felder, ein alter Freund des Icherzählers, gleich ganz aus seiner Identität verabschiedet und ein Doppelleben angefangen. Erst als er, schwer krank, kurz vor dem Tod steht, kommt er kurz aus der Deckung und übergibt dem Erzähler 4.000 Seiten an Notizen, aus denen ein Buch werden soll. Die Zettel sind voll mit herrlich kruden und zugleich scharfsinnigen Zitaten von Theoretikern, die es eigentlich gar nicht gibt.

Im zweiten Teil taucht wieder ein Weggefährte aus vergangenen Tagen auf: der nicht weniger intellektuelle Ornithologe Philip. Auf einem Roadtrip nach Griechenland quer durch den Balkan jagen die beiden einem Phantom nach, der Athene Noctua Noctua, einem ganz speziellen Käuzchen. Doch bald scheint es gar nicht mehr wichtig, das hoch dotierte Foto zu schießen. Viel wertvoller ist für den Erzähler die Erkenntnis, dass man auch vom Rand aus, als jemand, der nicht immer im Mittelpunkt stehen muss, Wertvolles leisten kann. Platz gefunden, setzen.

Eine Welt der Freigeister

Die Trilogie der spannenden, verschrobenen Typen schließt ab mit Heise, der sich schon als Student - im feinen Zwirn - mit den Worten „Dandy, Linguist“ vorgestellt hatte. Ein Bonvivant, ein begnadeter Koch, ein Zyniker. Doch nun hat er den Boden unter den Füßen verloren, samt dem Bezug zur Realität der westlichen Welt. Er ist ganz versunken in die mystische Gedankenwelt eines autochthonen Volkes, dessen Sprache er erforscht. Seine alte Persönlichkeit hat sich in Luft aufgelöst.

In „Die Verschwundenen“ gelingt Popp, im Hauptberuf Literaturkritiker von Ö1, etwas ganz und gar nicht Selbstverständliches: Er lässt den Leser in eine zeitlose Welt eintauchen mit Geschichten, die das Drängende ihrer Wirkung aus sich selbst heraus entwickeln. Es ist eine Welt der Freigeister, die Popp in klarer Sprache, an die Klassiker der Literaturgeschichte gemahnend, heraufbeschwört. Eine Welt, aus der man sich am Ende nur ungern verabschiedet.

Wolfgang Popp: Die Verschwundenen. Edition Atelier, 235 Seiten, 19,95 Euro.

Absurder Reiseführer in die Vergangenheit

Ein Witzezeichner, der sich anmaßt ernsthafte Literatur hervorzubringen, steht unter Generalverdacht. Als Tex Rubinowitz im Vorjahr den Bachmann-Preis für seinen in zwei Stunden hingeschleuderten Text entgegennahm, waren die Vorbehalte groß. Kann er nun wirklich schreiben? In „Irma“ nimmt Rubinowitz seinen Kritikern den Wind aus den Segeln, indem er die Frage gleich selbst beantwortet: „Ich kann schreiben, weil du es nicht kannst. Oder weil du es nicht machst. Einer muss es doch tun.“

Das Buch ist ein vermeintlich autobiografischer Streifzug durch die Vergangenheit seines namensgleichen Icherzählers, der von einer absurden Situation in die nächste stolpert, bis sich schließlich der Verlagslektor einschaltet und den allzu großen Klamauk wieder rausstreicht. Eine eigenwillige und höchst unterhaltsame Art der Vergangenheitsbewältigung.

Tex Rubinowitz: Irma. Rowohlt, 240 Seiten, 19,50 Euro.

Asphalt-Astronauten

Darko und Zeno, Alen und Mara, Niko und Alex - sechs ganz unterschiedliche Menschen treffen im Sommer aufeinander, ihre Wege werden sich überschneiden und auch wieder trennen. Sie alle haben aus verschiedenen Gründen den Kontakt zu ihrem bisherigen Leben verloren und müssen sich - wie Astronauten in der Schwerelosigkeit - neu orientieren. Die Wiener Autorin und Open-Mike-Preisträgerin Sandra Gugic legt mit ihrem Debüt einen vielstimmigen, kunstvoll verwobenen Großstadtroman vor. Eine anspruchsvolle, mitunter verwirrende Lektüre, die sich jedoch definitiv lohnt.

Sandra Gugic: Astronauten. C. H. Beck, 199 Seiten, 19,50 Euro.

Die roten langen Haare

Ein Fixpunkt der heimischen Literaturszene ist Marlen Schachinger, die in ihrem Institut für narrative Kunst in Niederösterreich Interessierte das Schreiben lehrt. In ihrem jüngsten eigenen Roman „Albors Asche“, einer wild fabulierten Parabel über Außenseitertum, arbeitet sie das Eigenbrötlerische an der ritualisierten Aufrechterhaltung von patriarchalen Hierarchien heraus. Zeitlos ist ihre Welt ebenfalls - aber nicht ahistorisch, sondern voll von Bezügen zur Geistesgeschichte. Die Rothaarige jedenfalls muss weg aus Albor. Und wenn nicht sie, dann zumindest die roten Haare.

Marlen Schachinger: Albors Asche. Otto Müller Verlag, 263 Seiten, 19 Euro.

Die endgültige Stille als Geschenk

Von einem Außenseiter berichtet auch Thomas Raab in seinem viel beachteten Buch „Still“. Sein Karl Heidemann hat mehr als das absolute Gehör: Er hört alles, immer und überall. Ein Geschenk ist für Karl die Stille, die er allerdings nur unter Wasser findet. Und aus einem altruistischen Motiv heraus beginnt er schließlich die absolute, endgültige Stille an Menschen zu verschenken: den Tod. Aphorismen werden hier zu Sentenzen, Sentenzen zu beinahe kindlich anmutenden Sinnsprüchen, die in eine Art Gedankenlyrik münden.

Thomas Raab: Still. Chronik eines Mörders. Droemer, 368 Seiten, 20,60 Euro.

Der Wiener Politfilz

Ebenfalls gemordet, wenn auch ganz anders, wird in Christian Davids Kriminalroman „Sonnenbraut“, seinem zweiten Buch rund um die junge, unbestechliche Wiener Staatsanwältin Lily Horn. Christian David ist längst kein Geheimtipp mehr, seine Verkaufszahlen gehen in die Hunderttausende. Hier wird der Filz einer fiktiven Wiener Politmafia beschrieben - was nicht ohne Humor ist, weil man die Schauplätze kennt und die Strukturen, aber das Personal ein anderes ist. Abgesehen davon: Hochspannung pur, gut geschrieben.

Christian David: Sonnenbraut. Deuticke, 478 Seiten, 20,50 Euro.

Die neuen Stars

Das Österreich der späten Krisenjahre scheint jedenfalls ergiebig zu sein, was Literatur betrifft. Lange ist etwa der Nachhall von Karin Peschkas „Watschenmann“. Die Erfolgsgeschichte hatte 2013 mit dem vorab verliehenen Wartholz-Literaturpreis begonnen und ging nach der Veröffentlichung im August des Vorjahres weiter mit dem Canetti-Stipendium und euphorischen Besprechungen bis in den April dieses Jahres hinein. Mit Spannung wird erwartet, wie es literarisch weitergeht bei Peschka.

Karin Peschka: Watschenmann. Otto Müller Verlag, 300 Seiten, 19.00 Euro.

Und auch ein internationaler Star ist Österreich in den letzten zwölf Monaten entwachsen: Bernhard Aichners intelligenter und höchst ungewöhnlicher Krimi „Totenfrau“ erobert derzeit ein Land nach dem anderen. Zuletzt waren begeisterte Kritiken in den wichtigsten britischen Medien (etwa im „Guardian“) zu lesen, Aichner gilt als „Must read“ und klettert die Bestsellerlisten bergan. Demnächst folgt eine Fortsetzung des Buches. Vielleicht kann man schon bald von „Österreichs Stephen King“ sprechen. Von Knecht über Popp und Peschka bis Aichner: Die Literaturszene ist hierzulande momentan vielgestaltig, divers, produktiv - und äußerst erfolgreich.

Bernhard Aichner: Totenfrau. Btb, 448 Seiten, 20,60 Euro.

Simon Hadler, Claudia Gschweitl, Carola Leitner und Lena Eich, alle ORF.at

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