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Die Sehnsucht nach dem besseren Leben

Der bereits mehrfach ausgezeichnete oberösterreichische Autor Reinhard Kaiser-Mühlecker hat mit „Zeichnungen. Drei Erzählungen“ sein sechstes Buch vorgelegt. In seinem gewohnt entschleunigten Stil schreibt er von menschlicher Schuld und ihren Ausprägungen und von der Sehnsucht, die Vergangenheit hinter sich zu lassen.

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Der 1982 in Kirchdorf an der Krems geborene Kaiser-Mühlecker bleibt in den drei Erzählungen seinem entschleunigten Stil ebenso treu wie der ländlichen Lebenswelt seiner Protagonisten in vorangegangen Romanen. Landeskundige Leser erkennen die Schauplätze der Handlung als Orte in jener Region wieder, in der Kaiser-Mühlecker aufgewachsen ist: dem oberösterreichischen Hausruckviertel.

So gab der Ort Rosental schon in den beiden Romanen „Roter Flieder“ (2012) und „Schwarzer Flieder“ (2014) den Hintergrund für die Geschichten, die sich um die Protagonisten aus dem bäuerlichen Milieu ranken. Ebenso rufen Name und Figur von Ferdinand Goldberger in der zweiten Erzählung „Male“ im jüngsten Buch im Leser Erinnerungen an Bekanntes wach.

Jung an Jahren, reifer Stil

Der 33-jährige Kaiser-Mühlecker, ausgezeichnet unter anderem mit dem Österreichischen Staatspreis, ist für seinen langsamen Erzählstil bekannt. Immer wieder heißt es in Rezensionen und Porträts, er schreibe bereits in jungen Jahren, als ob er ein betagter Schriftsteller wäre. Was sich womöglich wenig schmeichelhaft anhört, ist durchaus als Kompliment gemeint. Sein Stil ist einfach und klar, fast schon archaisch kommen manche Passagen daher - und auch manche der Dialoge.

Im 2008 erschienen Debütroman „Der lange Gang über die Stationen“ hatte Kaiser-Mühlecker bereits sein Terrain und Figurenkabinett abgesteckt. Er beschreibt die Landschaft und die Bewohner als „eigen und engstirnig, wohl deshalb, weil sie eingekeilt zwischen den Bergen leben und weil sie den Weitblick nicht haben“. Seine manchmal ein wenig altmodisch anmutende Wortwahl ist eingewoben in die auf das Wesentliche reduzierten Gespräche seiner erdverbundenen Charaktere.

Rückzug in die Isolation

„Spuren“, die eindeutig beste der drei Erzählungen, wurde nicht umsonst an den Anfang des Buches gestellt. Leicht ist es nicht, das Leben des ehemaligen jungen Zimmermanns, der wegen eines Bandscheibenvorfalls seine Arbeit aufgeben muss und sich fortan mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält. Seine Frau Andrea ist das notwendige Sparen längst leid. So verdingt er sich als schnell angelernter Finanzberater. Dass sich sein Vorgänger erhängt hat, lässt wenig Gutes vermuten.

Autor Reinhard Kaiser-Mühlecker

picturedesk.com/TZÖ

Reinhard Kaiser-Mühlecker spürt den Sehnsüchten seiner Figuren nach

Er nimmt alles gleichgültig hin – Arbeit, Demütigungen, Ausgrenzung und schließlich die Kündigung durch seinen Vorgesetzten, der nicht mehr ist als ein junger Streber im Anzug. In den eigenen vier Wänden wird er von diesem im Beisein seiner Frau gemaßregelt. Er stellt auf Durchzug: „Wie beim Zahnarzt ließ ich meine Gedanken in irgendeine Ferne schweifen, um dem Jetzt zu entkommen. Ich wartete, bis er zu Ende geredet hatte.“ Das Kündigungsgespräch erkennt er als solches nicht einmal.

Mit chirurgischer Genauigkeit zerlegt

Von Beginn an ignoriert er alle Warnsignale und verliert schließlich den gut dotierten Job, aufgrund dessen sich endlich wieder so etwas wie ein vorsichtig hoffendes Eheglück eingestellt hat. Die Arbeit ist weg, und auch die Frau verlässt ihn. Ihren Abschiedsbrief liest er nicht. Er weiß ohnehin, was darin steht, und beschließt, ein Jahr lang einfach nichts zu tun, und sitzt zu Hause, denkt nach und geht spazieren.

Langsam und unaufhörlich verschwindet er aus dem Leben anderer und seinem eigenen. „Nie hätte ich gedacht, dass die Welt noch einmal kleiner werden könnte; jetzt sah ich es, vollkommen ungläubig, in jeder einzelnen Stunde. Die Welt, das war im Wesentlichen nur noch ich.“ Die wenigen Bezugspersonen schwinden ebenso wie sein Interesse an der Welt. Einzig das Haus am See und sein seltsamer Bewohner ziehen ihn an. Im Rückzug erkennt er das wenige, das es braucht, um zufrieden zu sein.

Kaiser-Mühlecker versteht es, den Leser in den Bann der Geschichte zu ziehen. Mit chirurgischer Genauigkeit öffnet er mit seinem Schreibwerkzeug eine schwärende Wunde in seiner Figur, die sich lange nicht schließt. Aus dieser Verwundung fließen Verzweiflung, blinde Wut und Hass, bis schließlich nur noch Traurigkeit aus ihr sickert, die eine Art Heilungsprozess einleitet.

Lebensbeichte eines Grausamen

In der zweiten Erzählung „Male“ wird dem jungen Wenzel, einem Freund von Ferdinand Goldberger, die Lebensbeichte eines alten Mannes aufgebürdet. Spuckend und hustend liegt der boshafte Alte in seinem Bett und zieht den Jungen in seinen Bann. Anfangs gleichgültig zuhörend, beginnt sich Wenzel für den Fortgang der schaurigen Erzählung des sterbenden Greises zu interessieren. Die Grausamkeiten, von denen dieser berichtet, liegen zwar weit in der Vergangenheit, doch verknüpft dieser die losen Enden am Schluss seiner Beichte mit Wenzels Gegenwart.

Ort der Schande

Die letzte und titelgebende Erzählung „Zeichnungen“ handelt von einem jungen Mann, der auszog, um zu vergessen, dass er an einem Ort der Schande groß geworden ist. Das Gerede im Dorf, auf das er eigentlich nicht viel gibt, bringt ihn erst aus der Fassung, als der Vater auf das jüngste Gerücht, dass nicht alle Kinder von ihm, dem Vater, seien, verstummt. So verlässt der junge Mann tags darauf den großen elterlichen Bauernhof und bringt das geerbte Geld schneller durch als geplant.

Cover des Buchs „Zeichnungen. Drei Erzählungen“ von Autor Reinhard Kaiser-Mühlecker

S. FISCHER

Buchhinweis

Reinhard Kaiser-Mühlecker: Zeichnungen. Drei Erzählungen. S. Fischer, 304 Seiten, 20,60 Euro.

Die ursprüngliche „Zeichnung“, auf der abzulesen war, dass er als Hoferbe diesen einst bewirtschaften würde, verblasst zusehends. Er beginnt einen neuen Lebensplan für sich zu entwerfen, in dem er auch vor Mord nicht zurückschreckt. Dieser passiert ganz en passant, so dass man als Leser erst gegen Ende der Erzählung wieder daran denkt. Und als der Protagonist die aus Kalkül genommene Ehefrau zu lieben beginnt und bald darauf zusehen muss, wie sie ihm entgleitet, stellt sich die Frage: Wo hat das Unheil seinen Ausgang genommen?

Drei Geschichten, ein Ende

Das Leben der Figur gerät aus den Fugen und fügt sich im Laufe der Geschichte durch ihr geschicktes sowie kaltblütiges Zutun gut zusammen. Dann der Schluss - bei dem der Erzählstrang jäh abreißt und die Handlung in sich zusammenfällt. Was am Ende kommt, ahnt man als Leser schon – die beiden vorherigen Erzählungen haben eine eindeutige Fährte gelegt. Der erzählerische Bogen führt hier nicht zu einem kohärenten Abschluss - sondern schießt den Pfeil mit seiner Pointe über das Ziel hinaus.

Carola Leitner, ORF.at

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