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Ukraine am wirtschaflichen Abgrund

Dramatischer Währungsverfall, ausufernde Korruption und drohende Staatspleite: Ein Jahr nach dem Machtwechsel in Kiew und der Orientierung nach Westen steht die Ukraine wirtschaftlich am Abgrund. Dabei waren die Hoffnungen nach dem Sturz des ungeliebten Präsidenten Viktor Janukowitsch groß. Die Bilder der blutigen Massenproteste auf dem Maidan (Unabhängigkeitsplatz) gingen damals um die Welt.

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Doch seitdem ließen der Krieg gegen prorussische Separatisten im Osten und die ausbleibenden Reformen der neuen Regierung das Land abstürzen, meinen Experten. Sie fürchten, dass auch die 40 Milliarden Dollar (36 Mrd. Euro), die Kreditgeber wie der Internationale Währungsfonds (IWF) dem Land in Aussicht stellen, die Lage nicht schnell ändern werden.

Der Betrag gilt als Tropfen auf den heißen Stein, so gewaltig sind die Probleme im zweitgrößten Land Europas. US-Starinvestor George Soros forderte im „Spiegel“, die Ukraine benötige 50 weitere Mrd. Dollar (45 Mrd. Euro). „Die Lage ist äußerst prekär und sie wird jeden Tag schlimmer“, meint Soros.

Inflation bei 28,5 Prozent, Tendenz steigend

Am Maidan bröckelt in diesen Tagen Putz von den Fassaden. Das während der Straßenkämpfe herausgerissene Pflaster ist notdürftig repariert. Ein Jahr nach der „Revolution der Würde“ stehen in zahlreichen Schaufenstern Schilder mit der Aufschrift „Zu vermieten“ - viele Geschäfte mussten wegen der Krise schließen. Hunderttausende demonstrierten hier für ein besseres Leben und eine EU-Annäherung. Heute wirke der Platz trostlos, meint der Publizist Gleb Protjakow. „So viele Bettler wie heute gab es hier früher nicht“, sagt er.

Ein paar Straßen weiter klagt die Verkäuferin Larissa über fehlende Kundschaft an ihrem Kiosk. „Wir wollten zwar in die Europäische Union, aber EU-Niveau haben heute nur die Preise in den Geschäften“, meint sie und seufzt.

Bei 28,5 Prozent liegt die Inflationsrate - Tendenz steigend. Die Menschen ächzen besonders unter den Preissteigerungen, die der IWF der prowestlichen Regierung für weitere Kredite zur Bedingung gemacht hat. So wurden in Kiew die Tarife für U-Bahn, Busse und Straßenbahnen verdoppelt. Die Brotpreise stiegen deutlich. Auch die Kosten für Energie wurden massiv erhöht.

Massiv schrumpfende Währungsreserven

Entscheidend für die IWF-Kredite sind Änderungen im Staatsbudget, die in der ersten März-Hälfte beschlossen werden sollen. Doch die Eckdaten gelten als längst überholt. Im Haushaltsentwurf von Dezember ging Regierungschef Arseni Jazenjuk noch von einem Kurs von 17 Griwna für einen Dollar aus. Doch seit Anfang Februar befindet sich die Landeswährung im freien Fall. Der amtliche Kurs kletterte seitdem auf mehr als 30 Griwna pro Dollar. Nachdem die Währungsreserven innerhalb eines Jahres von etwa 17 Mrd. Dollar (15 Mrd. Euro) auf rund sechs Milliarden Dollar (fünf Mrd. Euro) schrumpften, stoppte die Nationalbank ihre Stützungskäufe.

Bankchefin Valentina Gontarewa zeigt trotzdem demonstrativen Optimismus. „Wenn wir den Panikfaktor beseitigen, werden die Zahlen wieder dahin zurückkehren, wo sie hingehören“, sagt sie. Gontarewa prophezeit eine „Wiedererstarkung der Griwna“, sollte sich der „Würgegriff des Krieges“ im Osten erst lösen. Wenige in Kiew denken aber, dass die heftig umstrittene Bankchefin dann noch im Amt sein wird.

Angekreidet wird Gontarewa vor allem eine Anhebung des Leitzinses von 14 auf 19,5 Prozent. Kredite sind nur noch mit mehr als 20 Prozent, teilweise 30 Prozent Zinsen erhältlich. Das drohe die kriselnde Konjunktur vollends abzuwürgen, fürchten Experten. Im letzten Quartal 2014 schrumpfte die Wirtschaft im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 15,2 Prozent. Auch die Gasrechnungen aus Russland zahlte die Ukraine stets auf den letzten Drücker. Immer wieder droht Moskau dem wichtigen Transitland mit einem Lieferstopp, der auch die EU trifft.

Bevölkerung noch geduldig

Der starke Wertverlust der Griwna ließ das Durchschnittseinkommen in der Ukraine mittlerweile auf umgerechnet 130 Euro abstürzen. Und Pensionisten fragen sich, wie sie mit 50 Euro im Monat über die Runden kommen sollen. Jazenjuk verbreitet aber Optimismus: „2016 beginnt die ukrainische Wirtschaft zu wachsen“, so der Regierungschef.

Zwölf Monate ist Jazenjuk nun im Amt - es sollte eigentlich ein Jahr der Reformen und eines wirtschaftlichen Neubeginns werden. Denn bereits unter dem gestürzten Präsidenten Janukowitsch glitt die Ex-Sowjetrepublik in eine große Krise ab. Das Tagesgeschäft konnte der Staatschef oft nur mit Milliarden aus Moskau finanzieren.

Vorangebracht hat die neue Regierung nach Ansicht von Wirtschaftswissenschaftlern aber wenig - im Gegenteil. In vielen Betrieben stehen Massenentlassungen an. So will Energieminister Wladimir Demtschischin zwölf von 35 staatlichen Kohlegruben schließen. Bisher verhält sich die Bevölkerung geduldig, obwohl Medien immer häufiger über Hamsterkäufe berichten. So ruhig müsse es nicht bleiben, warnt der Politologe Andrej Solotarjow. „Sollten die Leute sehen, dass die Regierung ihnen kleine Löffel anbietet, während sie selbst mit großen Löffeln isst, werden sie auf die Straße gehen.“

Andreas Stein, dpa

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