„Schon bald blühende Landschaften“
Helmut Kohl wendet sich direkt an sein größer gewordenes Volk. „Durch eine gemeinsame Anstrengung“, hebt der Kanzler in einer Fernsehansprache an, werde es gelingen, den Osten „schon bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln, in denen es sich zu leben und zu arbeiten lohnt“. Es ist der 1. Juli 1990, der Tag, an dem für die Ostdeutschen die D-Mark kommt.
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Und es ist Kohls Versprechen, das in den folgenden Jahren im Osten viel Enttäuschung hervorruft - auch, weil man sich unter diesem Schlagwort das Paradies auf Erden ausmalen konnte. Ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall aber bestaunen in diesen Wochen linke wie rechte Ökonomen eine deutliche Aufholjagd Ostdeutschlands. Wirtschaftlich zum Westen aufschließen werden vor allem Regionen in Sachsen und Thüringen.
„Die Erwartung der blühenden Landschaften innerhalb weniger Jahre war keine richtige Erwartung“, sagt Marcel Fratzscher heute. Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zählt auf, wie nah der Osten dem Westen bisher kommen konnte: Wirtschaftsleistung 71 Prozent, Produktivität 79 Prozent, Einkommen 83 Prozent.
Warum trotzdem so viele zufrieden sind
Wie kommt es dann, dass nach einer Umfrage drei Viertel der Ostdeutschen die Wiedervereinigung so positiv sehen? Wieso betrachtet sich jeder Zweite als Gewinner der Wende, wie es ostdeutsche Zeitungen wie die „Super Illu“ herausfanden? Vielen geht es nach dem Zusammenbruch der Ostindustrie und nach Jahren des Niedergangs heute wirtschaftlich besser. Die Arbeitslosigkeit liegt mit 9,1 Prozent zwar höher als im Westen, wo sie 6,5 Prozent beträgt. Aber im Osten sind nur noch halb so viele Menschen ohne Arbeit wie vor zehn Jahren.
Die verfügbaren Einkommen sind auf 17.700 Euro pro Kopf und Jahr gestiegen, 83 Prozent des Westniveaus. Rechnet man die vielerorts niedrigeren Preise gegen, schrumpft der Abstand weiter. 1991 betrug er noch 53 Prozent, wie die KfW-Bank kürzlich vorrechnete. Die staatliche Förderbank erklärte den Aufbau Ost gar zum zweiten deutschen Wirtschaftswunder.
„Schleicht nur vor sich hin“
Die Haushaltsvermögen sind seit 1993 um die Hälfte auf gut 67.000 Euro gewachsen, im Westen nur um ein Fünftel - allerdings auf den deutlich höheren Wert von 153.000 Euro. Jeder dritte Ostdeutsche lebt im eigenen Haus oder einer eigenen Wohnung. Zur Zeit der Wende war es nur jeder Vierte. Damals mussten noch 40 Prozent der Eigentümer Kohle schaufeln, heute ist nach DIW-Angaben eine Zentralheizung die Regel.
Das Institut spricht von einer erstaunlichen Reindustrialisierung und einer großen ökonomischen Leistung der Ostdeutschen. Doch bei vielen Kennzahlen stockt seit Anfang des Jahrtausends der Aufholprozess. „Er schleicht nur noch vor sich hin“, sagt etwa DIW-Experte Karl Brenke. Nur die Löhne näherten sich dem Westen noch an - schon wegen des Fachkräftemangels müssten Unternehmen ihren Leuten etwas bieten. „Aber ich erwarte nicht, dass wir in den nächsten 20 Jahren den westdeutschen Durchschnitt erreichen.“
Zentralen der Konzerne im Westen
Das habe einen einfachen Grund: Im Osten gibt es zum großen Teil Jobs für mittlere Qualifikationen. Die am besten ausgebildeten Leute werden in den Konzernzentralen gebraucht - und die stehen im Westen. Im Osten ist die Struktur kleinteiliger, weshalb auch die Produktivität Westniveau kaum erreichen kann.
Der Westen profitiere von wirtschaftlichen Ballungszentren wie München, Frankfurt und Düsseldorf, sagt Michael Hüther, der Chef des arbeitgebernahen Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW). Im Osten wachse Berlin gerade erst in eine solche Rolle hinein. „Leipzig und Dresden sind da noch zu klein“, so Hüther weiter.
Burkhard Fraune, dpa
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