Im Vorfeld umstritten
Das EU-Parlament hat am Dienstag Jean-Claude Juncker zum neuen Präsidenten der EU-Kommission gewählt. Der frühere luxemburgische Regierungschef und „Mister Euro“ erreichte die Mehrheit der EU-Parlamentarier. 422 der 751 Europaparlamentarier stimmten am Dienstag in Straßburg für Juncker, gegen ihn votierten 250 Abgeordnete. Notwendig war die absolute Mehrheit sämtlicher 751 Abgeordneten, also die Stimmen von mindestens 376 Mandataren.
Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.
Im Vorfeld hatten sich Liberale, Christdemokraten und Sozialdemokraten grundsätzlich für Juncker ausgesprochen. Juncker tritt damit die Nachfolge des scheidenden EU-Kommissionspräsidenten Jose Manuel Durao Barroso mit 1. November an. Junckers Wahl in das Amt war bei den EU-Staats- und -Regierungsschefs umstritten: Der britische Premier David Cameron und der ungarische Regierungschef Viktor Orban hatten sich massiv gegen Juncker ausgesprochen.

Reuters/Vincent Kessler
Jean-Claude Juncker bei seiner Rede vor dem EU-Parlament
Glückwünsche und Erwartungen
Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel gratulierte Juncker und sieht in seiner Wahl „ein gutes Zeichen für die Handlungsfähigkeit Europas“, wie sie im kroatischen Dubrovnik sagte. Auch die österreichische Politik beglückwünschte Juncker. Bundeskanzler und SPÖ-Chef Werner Faymann lobte ihn in einer Aussendung als „engagierten Europäer“.
Für die SPÖ-Delegationsleiter im EU-Parlament, Jörg Leichtfried und Evelyn Regner, ist er zwar „kein Traumkandidat“, wirke aber „glaubwürdig im Kampf gegen Lohn- und Sozialdumping“. ÖVP-Delegationsleiter Othmar Karas sieht durch die Wahl Junckers einen „Demokratiesprung nach vorn“. Das Prozedere mit den Spitzenkandidaten für die EU-Wahlen, deren Gewinner dann Kommissionspräsident wird, ist für Karas „unumkehrbar“. Juncker werde „der unabhängigste Kommissionspräsident“ sein.
ÖVP-Chef, Vizekanzler und Finanzminister Michael Spindelegger sieht durch Junckers Wahl „die Weichen für eine erfolgreiche Konsolidierungspolitik gestellt“. Die Delegationsleiterin der Grünen im EU-Parlament, Ulrike Lunacek, erwartet von ihm, dass er „seine Versprechungen für ein sozialeres, transparenteres und ökologischeres Europa, die er heute gemacht hat, auch umsetzt“.
Zehnpunkteprogramm für Wachstum
Juncker forderte vor seiner Wahl im Europaparlament eine stärkere Flexibilisierung des Stabilitäts- und Wachstumspakts. „Wir werden den Pakt in den Grundzügen nicht verändern, Europa darf seine Versprechen nicht brechen. Aber in Zukunft werden wir die Flexibilitätsmargen verstärkt nutzen“, so Juncker. Europas Wirtschaft muss nach Ansicht von Juncker wieder wettbewerbsfähiger werden.
„Wir sind zurückgefallen“, so Juncker. „Europa braucht eine breit aufgestellte Reformagenda“, betonte er. Dabei müssten auch Risiken eingegangen werden. Er schlug einen Zehnpunkteplan vor, um das Wachstum anzukurbeln und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Juncker hob den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit hervor und sagte, dass private und öffentliche Investitionen die beste Waffe gegen den Verlust von Arbeitsplätzen seien.
300 Milliarden gefordert
Innerhalb der nächsten drei Jahre will Juncker durch klügere Schwerpunkte im EU-Haushalt und Stimulierung von Privatinvestitionen durch die Europäische Investitionsbank (EIB) bis zu 300 Milliarden Euro zusätzlich mobilisieren. Ein entsprechendes anspruchsvolles Investitionsprogramm will Juncker bis zum Februar 2015 vorlegen.
Das „anspruchsvolle Investitionspaket“ aus öffentlichen und privaten Mitteln solle mehr Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und soziale Gerechtigkeit ermöglichen, sagte Juncker. Das Programm werde die „Reindustrialisierung Europas“ fördern.
„In der Sprache des Weltmeisters“
Die Europäische Union müsse wieder ein attraktiver Standort für Investoren und Arbeitnehmer werden, betonte Juncker, der abwechselnd Französisch, Deutsch und Englisch sprach. „Die Wirtschaft muss den Menschen dienen, nicht umgekehrt“, Profitgier dürfe nicht vor soziale Errungenschaften gehen. Er sei ein „begeisterter Anhänger“ der sozialen Marktwirtschaft und wolle „ein Kommissionspräsident des sozialen Dialogs sein“, sagte Juncker.
„Die Krise ist noch nicht zu Ende“, sagte Juncker weiter, „sie wird erst vorbei sein, wenn wir Vollbeschäftigung haben. Wir brauchen eine Wirtschaftsregierung, und das werden wir auch erreichen.“ Juncker sprach mit Engagement und Nachdruck, im voll besetzten Plenarsaal wurde seine Rede mehrfach von längerem Beifall unterbrochen. Längere Zeit sprach Juncker auch auf Deutsch. „Ich drücke mich in der Sprache des Weltmeisters aus“, sagte er dazu.
EU-Außenpolitik soll gestärkt werden
Juncker fordert einen profilierten Politiker für das Amt des EU-Außenbeauftragten. Der oder die neue Amtsinhaberin müsse ein starker und erfahrener Akteur sein, sagte Juncker am Dienstag vor seiner Wahl zum Chef der EU-Kommission im EU-Parlament. „Die EU-Außenpolitik muss stark nach außen repräsentiert werden.“
Juncker kündigte an, dass dem EU-Außenbeauftragten diejenigen EU-Kommissare unterstellt werden, die für Außenthemen mitzuständig seien. Der EU-Außenbeauftragte ist am EU-Rat als Vertretung der EU-Staaten angedockt und fungiert zugleich als Vizepräsident der EU-Kommission.
Juncker-Sarkasmus für Farage
Juncker selbst ging am Dienstag auf Vorwürfe des britischen EU-Gegners Nigel Farage und der Französin Marine Le Pen mit einem leichten Sarkasmus ein. Farage hatte Juncker attestiert, „jemand zu sein, der einen bessere Sinn für Humor hat als die meisten, die ich in Brüssel getroffen habe“. Allerdings sei eine Abstimmung über nur einen Kandidaten vergleichbar mit ehemaligen Sowjetzeiten. Auch die geheime Wahl sei eine „Beleidigung der Wähler“.
Juncker meinte dazu lediglich, mit seiner Kritik an der geheimen Wahl wolle Farage nur verhindern, „dass seine Wähler herausfinden, dass er für mich gestimmt hat. Von daher gesehen empfiehlt sich doch eine geheime Abstimmung“. Juncker launig: „Die geheime Wahl ist eine Konzession zugunsten von Herrn Farage. Ich hätte das nicht gemacht.“
Le Pen: „Verrücktes tödliches Projekt“
Le Pen von der rechtsextremen Front National kritisierte, dass „Juncker am Unheil unserer Völker teilnehmen“ werde. Bei den EU-Wahlen in Frankreich hätten die Franzosen „Nein zu Brüssel, Nein zur Konfiszierung der Demokratie, Nein zur Dummheit der regressiven Politik und zur organisierten massiven Einwanderung gesagt“.
Die EU sei ein „verrücktes, tödliches Projekt“ geworden. Juncker sei tatsächlich bei den EU-Wahlen nicht gewählt worden und habe keine Legitimität. Er wolle jetzt die ganze EU zu einem Steuerparadies ausweiten. Es sei notwendig, „endlich die Kommission und die ganze europäische Technostruktur in den Papierkorb der Geschichte werfen zu können“. Juncker antwortete, er „danke Le Pen, dass Sie nicht für mich stimmen. Ich bin Ihnen zu tiefstem Dank verpflichtet“.
Ringen um Budget begonnen
Die EU-Staaten haben den Haushaltsentwurf der EU-Kommission für das kommende Jahr zusammengestrichen. Vertreter der Mitgliedstaaten einigten sich am Dienstag in Brüssel darauf, dass die Europäische Union 2015 nicht mehr als 140 Milliarden Euro ausgeben dürfen soll. Damit werde der Anstieg des Budgets im Vergleich zum Vorjahr auf rund drei Prozent begrenzt und genug Spielraum für unvorhersehbare Ausgaben gelassen, hieß es in einer Erklärung.
Die EU-Kommission hatte vor einem Monat für das kommende Jahr einen Haushalt aufgestellt, der Zahlungen in Höhe von 142,1 Milliarden Euro vorsieht. Die von den Mitgliedstaaten geforderte Kürzung wird aller Voraussicht nach Widerstand des Europaparlaments hervorrufen, das über das EU-Budget mit entscheidet. Beide Seiten müssen nun in Verhandlungen eintreten.
Neuer Modus durch Vertrag von Lissabon
Juncker hatte als Spitzenkandidat der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP) bei der Europawahl im Mai das beste Ergebnis eingefahren. Die maßgeblichen Fraktionen im Europaparlament bestanden daher darauf, dass er der neue Kommissionspräsident wird. Unter dem Druck der EU-Volksvertretung gaben die Staats- und Regierungschefs der Union schließlich nach und nominierten Juncker Ende Juni für den Brüsseler Spitzenposten. Sie trugen damit dem EU-Reformvertrag von Lissabon Rechnung, wonach das Ergebnis der Europawahl bei der Ernennung des Kommissionspräsidenten berücksichtigt werden muss.
Links: