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108 Biografien untersucht

Die Weichenstellung für Menschen mit Beeinträchtigung in Richtung Sondereinrichtungen erfolgt früh, speziell wenn sie die Sonderschule besucht haben. Das zeigt ein Forschungsprojekt, in dem Lebensgeschichten von behinderten Personen aus vier Ländern erhoben wurden.

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Im Projekt Quali-TYDES haben die Wissenschaftler 108 Lebensgeschichten von Personen mit intellektueller, körperlicher und visueller Beeinträchtigung aus Irland, Österreich, Spanien und der Tschechischen Republik erhoben, die in den 1980er Jahren geboren wurden.

Kaum Wechsel zwischen Sonder- und Regelschule

„Wir wollten analysieren, inwiefern Gesetze und politische Leitlinien das Leben jener Generation beeinflusst haben, die als erste den Übergang von der Sonderschule als ausschließliche Schulform hin zu integrativen Modellen potenziell erlebt hat, die Einführung persönlicher Assistenz, Arbeitsintegration, etc.“, sagte Tobias Buchner vom Bereich Heilpädagogik und Inklusive Pädagogik am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien.

Unter den Befragten habe es kaum Wechsel zwischen Sonder- und integrativer Schule gegeben, „Personen wurden schon früh und stark eingespurt“, so Buchner. „Anhand der Biografien sehen wir klar, wie durch die Wahl der Bildungsform eine frühzeitige Weichenstellung vorgenommen wird: entweder in ein Leben entlang von Sondereinrichtungen wie Sonderschulen, Werkstätten, Wohnhäuser oder entlang eines integrativen Pfades mit Regelschule, Studium oder erster Arbeitsmarkt“, sagte Buchner.

„Massive Diskriminierung“ bei Suche nach Schule

Die in Österreich vom Wissenschaftsfonds FWF finanzierte Studie zeigte, dass das gesetzlich verankerte Recht auf schulische Integration in der Realität anders aussieht: Für die Betroffenen „bedeutete es oft eine Odyssee, eine Schule für das Kind zu finden“. Sie seien mit „fadenscheinigen Begründungen“ wie der nicht passenden Sozialstruktur der Schule oder Überforderung der anderen Schüler abgewiesen worden.

„Dass man keine Schule in der näheren Umgebung bekommt, von Geschwistern oder Freunden getrennt wird, nur weil man eine Beeinträchtigung hat, wird als massive Diskriminierung wahrgenommen“, so Buchner Ende Juni gegenüber der APA.

Engagement von Direktoren, Lehrern und Eltern nötig

Dort, wo schulische Integration funktioniert hat, hätten sich „Direktoren oder Lehrer enorm eingesetzt und sehr viel ehrenamtlich gemacht“. Vor allem das Engagement der Mütter hätte die integrative Beschulung des Kindes ermöglicht, etwa indem sie das Kind täglich kilometerweit chauffierten oder im pflegerischen Bereich an der Schule unterstützten. In der Volksschule funktionierte aus Sicht der Befragten die Integration sehr gut, die Probleme fangen mit dem Übergang auf die Sekundarstufe I (Hauptschule, AHS-Unterstufe) an, so Buchner.

Mobbing durch Mitschüler an Regelschulen ...

Signifikant seien für diesen Schulabschnitt die zahlreichen Mobbingerfahrungen von Menschen mit Beeinträchtigung an Integrationsschulen, vor allem auf Ebene der Mitschüler. „Es gibt hier einen Stigmatisierungsprozess, wo Kinder als anders markiert werden als die Mitschüler“, so Buchner.

„In den Berichten kommt heraus, dass Leute mitunter über Jahre hinweg Mobbing ertragen, weil der Regelschulabschluss wichtig ist, um am Arbeitsmarkt zu reüssieren“, sagte Buchner. Er zieht daraus den Schluss, dass „das Versprechen von der sozialen Integration, die man sich von der integrativen Bildung erhofft hat, nicht nur in Österreich, sondern auch in den anderen untersuchten Ländern häufig nicht funktioniert hat“.

Wobei der Wissenschaftler von einem „ambivalenten Befund“ spricht: Denn in der Lebenslaufperspektive würden viele Befragte berichten, dass sie trotz negativer Erfahrungen die Integration rückblickend als gut bezeichnen, weil es zu einem Abhärtungsprozess gekommen sei. Zudem hatten jene, die in eine integrative Schule gegangen sind, wesentlich bessere Chancen auf eine Stelle am ersten Arbeitsmarkt als jene aus der Sonderschule.

... und durch Lehrer an Sonderschulen

Doch auch der Sonderschulbesuch sei von massiven Mobbing- und Gewalterfahrungen gekennzeichnet. „Dazu kommt dort auch psychische Gewalt seitens der Lehrer, die Befragten berichten in einigen Fällen von permanenten Beleidigungen und dass ihnen immer wieder gesagt wurde, wie dumm sie seien“, so Buchner. Konsequenz sei „eine Verinnerlichung der Abwertungen und ein negatives Selbstbild“.

Im nachschulischen Bereich zeigte die Studie, dass die Einführung der persönlichen Assistenz am Arbeitsplatz im Jahr 2003 „einen deutlichen qualitativen Unterschied“ ausgemacht hat. Personen mit körperlicher oder visueller Beeinträchtigung hätten sich ohne diese Unterstützung im Studium oder am Arbeitsplatz „durchwursteln müssen“. Die persönliche Assistenz hätte dagegen „flexiblere Spielräume“ eröffnet. Großen Einfluss habe auch die Behindertenbewegung gehabt, die nicht nur aktiv für das Recht auf persönliche Assistenz gekämpft, sondern auch durch ihre Beratungen viele Möglichkeiten aufgezeigt habe.

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