Geschichte als Fotodokumentation
Was erzählen Ruinen von der Vergangenheit und Gegenwart eines Landes? Der taiwanesische Künstler Yao Jui-Chung stellt sich diese Frage schon seit mehreren Jahrzehnten und hat sich die Dokumentation und Analyse von verlassenen Gebäuden in ganz Taiwan zur Aufgabe gemacht. In der Ausstellung „The Space that Remains“ im Rahmenprogramm der Architekturbiennale in Venedig sind die Bilder nun erstmals in Europa zu sehen.
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Auf der Suche nach immer neuen Ruinen hat Yao in den letzten beiden Jahren bereits ganz Taiwan und viele dazugehörige Inseln bereist. Mehrere hundert verlassene öffentliche Gebäude hat er dabei fotografiert - von Parkhäusern über ehemalige Dissidentengefängnisse bis zu Schulen und Freizeiteinrichtungen. Jede der Ruinen wurde dabei nicht nur fotografiert, sondern auch genau katalogisiert und in ihrer architektonischen, historischen und gesellschaftlichen Bedeutung analysiert.

Yao Jui-Chung/National Taiwan University of Arts
Die prunkvollen Häuser auf den Kinmen-Inseln nahe China wurden nach dem chinesischen Bürgerkrieg in den 1950er Jahren zur umkämpften Zone
Die Arbeit Yaos ist ein Wettlauf gegen die Zeit, denn viele der leerstehenden und über die Jahre vergessenen Gebäude wurden in den letzten Jahren dem Erdboden gleichgemacht - mit vielen davon verschwand damit auch ein Stück der wechselvollen Geschichte der Insel, die seit dem 16. Jahrhundert von Kolonialisierung durch europäische und asiatische Großmächte geprägt war.
Von der Assimilation indigener Völker
Old Haocha ist die einzige Anlage in der Yaos Serie, die auf die Tradition der Rukai zurückgeht - eines der 14 noch existierenden indigenen Völker Taiwans. Über die Jahre hinweg wurden die Stämme großteils von den überwiegend chinesischen Einwanderern assimiliert und stellen heute nur noch einen Anteil von zwei Prozent der Gesamtbevölkerung.

Yao Jui-Chung/National Taiwan University of Arts
In Old Haocha erzählen die Ruinen von der Kultur der indigenen Völker, von Kolonialisierung und Assimilation
In Old Haocha, das 1999 den Status als Nationales Kulturerbe erhielt und dadurch vor dem Abriss geschützt wurde, wird der sukzessive Verdrängungsprozess besonders deutlich: Hinter Überresten der Schieferhäuser, die traditionell von den Rukai gebaut wurden, erheben sich die Ruinen einer christlichen Kirche, ein deutliches Symbol für die Missionierung des Volkes während der niederländischen Kolonialherrschaft im 17. Jahrhundert.
Auf einem anderen Bild der Serie sieht man die überwucherten Überreste einer Schule, kaum mehr als ein Stück Mauer, das nur durch eine alte Wandtafel als ehemalige Bildungseinrichtung identifiziert werden kann - laut Katalog Sinnbild für die japanische und chinesische Erziehung, mit der die ursprüngliche Kultur der Rukai zwangsbeglückt wurde. Die Fotoserie zu Old Haocha sei nicht nur repräsentativ für die Vergänglichkeit, sondern auch für „die Zerbrechlichkeit von Ideologien, Glauben und kultureller Identität“.
Aufstieg und Fall der Metallindustrie
Auch die Serie „Shuiandong, the 13-Storey Mine Selection Plant“ erzählt viel von der Geschichte Taiwans, aus wirtschaftlicher Sicht betrachtet. Gebaut und vorerst betrieben wurde die Mine von der Japanese Mine Company, war Taiwan doch vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1945 eine Provinz Japans. Shuiandong war in den 1940er Jahren die größte asiatische Goldmine - bis das Edelmetall schließlich zu Ende ging. Von den 1960er Jahren an wurde die Mine von der staatlichen Taiwan Mining Corporation betrieben, die dort eine Anlage zur Gewinnung von Elektrolytkupfer betrieb. Die exzessive Ausbeutung in den vergangenen 80 Jahren hat ihre Spuren hinterlassen - mineralische Ressourcen wie Gold, Erze, Kohle und Marmor sind heute rar auf der Insel.

Yao Jui-Chung/National Taiwan University of Arts
Verfallene Schmelzöfen in Shuiandong, der ehemals größten Goldmine Asiens
Ähnlich wie bei Old Haocha beeindrucken auf den Bildern Yaos auch hier die zahlreichen Einflüsse, die sich im Lauf der Zeit in der nun zerbröckelnden Architektur niedergeschlagen haben. „Diese architektonischen Details geben einen lebendigen Eindruck von der Erhabenheit Shuiandongs - aber auch von Aufstieg und Fall der großangelegten taiwanesischen Metallindustrie,“ so Yao.
Die „verfluchten“ UFO-Häuser
Mit der Serie „Sanzhi UFO Houses, New Taipei City“ hat Yao eine Siedlung auf Film gebannt, die es heute gar nicht mehr gibt. Das Ensemble von linsenförmigen Häusern wurde in den frühen 1980er Jahren an der Nordwestküste Taiwans als vornehme Feriensiedlung geplant. Im Vergleich zu den anderen Gebäuden in der Ausstellung waren die UFO Houses von Beginn an Geisterhäuser - sie wurden weder komplett fertiggestellt noch waren sie jemals in Verwendung.

Yao Jui-Chung/National Taiwan University of Arts
Zwischen den UFO-Gebäuden in Sanzhi stehen Skulpturen, die die unwirkliche Atmosphäre verstärken
Die Häuser hätten vornehmlich an in Asien stationierte US-Soldaten verkauft werden sollen, doch dazu kam es nie. Einerseits ging der Errichtungsgesellschaft in einem sehr späten Stadium das Geld aus, andererseits waren die Häuser kaum an den Mann zu bringen - Geschichten über einen Fluch hatten die Runde gemacht: Nachdem eine chinesische Drachenskulptur für die Errichtung einer Zufahrtsstraße zerstört wurde, sollen sich dort gleich mehrere tödliche Autounfälle ereignet haben. Andere Quellen berichten darüber, dass sich die Ferienanlage auf dem Grundstück eines ehemaligen niederländischen Soldatenfriedhofs befunden habe und damit die Totenruhe gestört worden sei.
„Ruinen der Zukunft“ gehören der Vergangenheit an
In den 1990er Jahren erlangten die halbfertigen Bauten einige internationale Berühmtheit, als Locations für Filmdrehs, als beliebtes Objekt von Fotografen und als viel diskutierte Geisterstadt in Onlineforen. Die gern als „Ruinen der Zukunft“ beschriebene Anlage solle als Museum erhalten werden, forderte eine Onlinepetition in den frühen 2000er Jahren - doch umsonst. 2010 wurde die UFO-Stadt niedergerissen, nun soll dort eine neue moderne Ferienanlage mit Wasserpark errichtet werden. Yaos Fotos stammen aus dem Jahr 1993 und zeigen eine apokalyptische, unwirklich melancholisch anmutende Stadt, in der die dort installierten Skulpturen von Tieren und mythologischen Gestalten die Gebäude übernommen zu haben scheinen.
Ausstellungshinweis
„The Space that Remains“ im Rahmenprogramm der 14. Architekturbiennale, Istituto Santa Maria delle Pieta, Castello 3701, bis 30. August 2014, täglich 10.00 Uhr bis 18.00 Uhr, montags geschlossen.
Yao sieht seine Arbeit nicht nur als Dokumentation, sondern verfolgt einen sehr philosophischen Ansatz. „Alles hat seinen Lebenszyklus und ein Ablaufdatum“, erklärt er. „Die Ruinen sind ein Symbol für den permanenten Kreislauf zwischen Geburt, Leben und Sterben.“ Jedes Gebäude, so Yao, sei dabei eine Idee oder ein Gedanke, dass die geheime Landschaft tief im Herzen der Menschen widerspiegle.
Sophia Felbermair, ORF.at
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