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„Eine Zeit, in der der Kaiser noch lebte“

Gibt es „den typisch österreichischen“ Zugang zum Gedenkjahr 100 Jahre Erster Weltkrieg? Von ORF.at befragte Historiker sind sich einig, dass diese Frage nur mit Ja beantwortet werden kann. Die Hintergründe erscheinen vielfältig, deutlich wird vor allem aber eines: Das Land tut sich im Umgang mit Themen wie diesen offenbar schwer.

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Der Erste Weltkrieg ist im europäischen und damit auch österreichischen Gedächtnis durchaus präsent, so Heidemarie Uhl von der Akademie der Wissenschaften - während die Jahre 1914 bis 1918 etwa in Großbritannien und Frankreich als „Großer Krieg“ fest verankert sind, spielt die Zeit in Österreich jedoch kaum eine Rolle.

Aus Sicht von Helmut Konrad von der Universität Graz handelt es sich hier allerdings noch um keine österreichische Eigenart, vielmehr gebe es in „Niederlagenstaaten“ grundsätzlich „keine große Erzählung zum Krieg“. Zugleich kommt der Erste Weltkrieg in Österreich aber auch - im Gegensatz etwa zu Ländern wie der Tschechoslowakei, Polen und Jugoslawien - keiner „nationalen Geburtsstunde“ gleich. Österreich war vielmehr „der Rest“.

Steinerne Kreuze auf dem Kriegsgefangenenfriedhof von Frauenkirchen

ORF.at/Michael Baldauf

Soldatenfriedhöfe und Kriegsdenkmäler erinnern bis heute an den Ersten Weltkrieg - Österreich wird dennoch eine „Tendenz des Vergessens“ attestiert

„Abwesenheit von nationaler Identifikation“

Das „Schwanken zwischen einer Identifizierung mit einem Reich, das mit dem heutigen Österreich nicht mehr zu tun hat als mit allen anderen Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns auch“, gepaart mit „einer Abwesenheit von nationaler Identifikation“ sei dann doch „spezifisch österreichisch“, wie Anton Pelinka von der Central European University (CEU) in Budapest anmerkt.

Kriegsdenkmäler und Friedhöfe erinnern zwar an die Kriegstoten, „auf bestimmte Heldenmythen aufbauende Erinnerungsstätten“ - Pelinka nennt hier als Beispiel das Budapester Denkmal, das an die Verteidigung und Wiedereroberung von Przemysl erinnert - sucht man in Österreich aber vergeblich. „Es wird wohl den wenigsten einfallen, das Heldendenkmal im Äußeren Burgtor als einen Gedächnisort des Ersten Weltkriegs zu benennen“, sagte passend dazu der ehemalige Chef des Heeresgeschichtlichen Museums in Wien, Manfried Rauchensteiner.

Burgtor vor dem Wiener Heldenplatz

ORF.at/Sonja Ryzienski

Standort einer Erster-Weltkrieg-Gedenkstätte: das äußere Burgtor in Wien

„Tendenz des Vergessens“

Auch Rauchensteiner unterstreicht, dass der Erste Weltkrieg in Österreich nicht als identitätsbildend angesehen werde. Dazu kommt aber auch, dass abseits von einer gewissen Habsburger-Nostalgie hierzulande das Abkoppeln von früheren Zeiten offenbar „eher angesagt“ sei als das Annehmen der Vergangenheit. Ernüchternd erscheint hier der Verweis auf eine Umfrage, der zufolge 57 Prozent der Befragten überhaupt keine Epoche nennen konnten, auf die Österreich stolz sein könne.

Geht es nach Alfred Pfoser von der Wienbibliothek, wird der Erste Weltkrieg zudem „von der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs überlagert“. Eine „Tendenz des Vergessens“ bescheinigt der Historiker aber bereits der Ersten Republik. Der genannte Hintergrund: „Niederlagen, Demütigungen und Traumata werden immer gern verdrängt.“

„Kopf in den Sand stecken“

Ein „typisch österreicherischer Zugang“, so Oliver Rathkolb von der Universität Wien, sei aber auch den „Kopf in den Sand stecken und sich als unschuldiges Opfer fühlen“. Während selbst „Sieger“ wie Großbritannien mittlerweile über die politische Verantwortung für den Ersten Weltkrieg debattieren und in Deutschland bereits seit Jahrzehnten heftig über die Kriegsschuldfrage als Teil der Verantwortung diskutiert wird, sei das in Österreich - „abgesehen von ein paar Versuchen“ - nach 1918/19 ausgeblieben.

Nach wie vor ausständig ist Rathkolb zufolge etwa eine kritische Auseinandersetzung mit der Rolle der politischen und militärischen Elite um das Haus Habsburg, die „völlig ungerüstet und militärisch inferior mit einem unüberlegten Rachefeldzug einen Krieg begonnen hat, der letztlich die Lebensgrundlage für zwei Generationen in Europa zerstört und den Zweiten Weltkrieg mitverursacht hat“. Ungeachtet der Verstaatlichung des imperialen Vermögens und der Abschaffung der Adelsprädikate habe sich die Gesellschaft nach 1918 vielmehr als „Opfer der Niederlage und der Friedensverträge“ gesehen.

Heute wird zwar das Attentat von Sarajevo 1914 „in alle Richtungen dreidimensional gedreht und nachgespielt“, eine Diskussion über „die Tatsache, dass die Habsburgermonarchie auf dem europäischen Kontinent nach dem zaristischen Russland die autoritärste Monarchie gewesen ist“, sucht man Rathkolb zufolge allerdings vergeblich.

Vergessene Kriegsverbrechen

Auch der Historiker Anton Holzer, der wie Rahtkolb etwa eine kritische Auseinandersetzung mit den Kriegsverbrechen der k. u. k. Armee vermisst, spricht hier von einem „blinden Fleck der Geschichte“. Holzer kritisiert, dass teilweise bis heute an einen „heldenhaften Krieg der Großväter“ erinnert werde - „eine Zeit, in der der Kaiser noch lebte und die scheinbar nur gut war“.

Vergessen werde dabei, dass damit ein Krieg heroisiert wird, „der wenig mit Heldenhaftigkeit zu tun hatte, sondern sehr viel mit kaltblütigem Verheizen von ‚Menschenmaterial‘“. Ob die „De-facto-Militärdiktatur, in die sich Österreich 1914 verwandelte, die Folgen des Standrechts, die Ausschaltung jeglicher oppositioneller Meinung, die Zensur, die Massendeportationen und Vertreibung und schließlich der brutale Umgang mit der Zivilbevölkerung“ - Holzer zufolge entsteht der Eindruck, dass die heimische Geschichtswissenschaft „und in ihrem Gefolge ein Teil der öffentlichen Meinung“ unangenehme Wahrheiten nach wie vor verdrängt. „Es ist, als ob es den Fachleuten für das Vergangene die Sprache verschlagen hätte.“

Gedenken als „Serie von Seifenopern“

Obwohl seit Jahrzehnten Inhalt zahlloser Debatten, zählt auch die Kriegsschuldfrage für Holzer weiterhin zu jenen Seiten des Kriegs, „die für die offizielle österreichische Selbstwahrnehmung unangenehm sind“. „Trotz aller Relativierungen“, etwa durch den Gedenkjahrbestseller „Die Schlafwandler“ von Christopher Clark, sei es schließlich Österreich gewesen, das den Krieg begonnen hat.

Grabsteine von Gefallenen aus dem Ersten Weltkrieg auf einem Südtiroler Friedhof

ORF.at/Peter Prantner

Nicht die Frage der Kriegsschuld, sondern die „völlig sinnlosen Opfer“ sollten Pfoser zufolge im Zentrum der Debatte zum Ersten Weltkrieg stehen

Aus anderen Gründen attestiert auch Pfoser der Clark zugeschriebenen Wiederbelebung der Kriegsschulddebatte eine „verhängnisvolle Rolle“. „Meines Erachtens ist es die falsche Debatte“, so Pfoser, der das Thema Erster Weltkrieg nicht ausschließlich auf die Schuldfrage reduziert sehen will: Erinnert werden solle vielmehr an die „enormen, völlig sinnlosen Opfer, die dieser Krieg verursacht hat“.

„Allseits geteilte Schuld“

Dass Clarks „Schlafwandler“ auch in Österreich „so gut ankommen“, liegt für Rathkolb mit Blick auf die These „der allseits geteilten Schuld“, die laut Pfoser auch einer Entlastung der Habsburgermonarchie gleichkommt, auf der Hand.

Grundsätzlich zeigt sich Rathkolb von der laufenden „medialen Lawine zum Ersten Weltkrieg“ und der „unübersehbaren Serie von Seifenopern“ jedenfalls wenig angetan. Vielmehr bleibe zu hoffen, dass der „kritische Chronist der Habsburgereliten und der Realität der Kriegsverantwortung“ - die Rede ist von Karl Kraus und dessen „Letzte Tage der Menschheit“ - wieder wahrgenommen wird.

„Kaltes Gedenken“ als Chance?

Offen bleibt, ob Kraus dem auch von Uhl als „kaltes Gedenken“ beobachteten österreichischen Zugang zum Ersten Weltkrieg tatsächlich neues Leben einhauchen kann. Ziel müsse es der Historikerin zufolge aber ohnehin sein, den Ersten Weltkrieg künftig verstärkt von einer „transnationalen Perspektive“ aus zu beleuchten. Das Fehlen nationaler Heldenmythen wäre laut Pelinka jedenfalls durchaus auch eine Chance, „zwischen unhaltbarer Habsburg-Nostalgie, Nationalisierung der Geschichte und dem Ausblenden der Zusammenhänge“ einen „europäischen Zugang“ zu entwickeln.

Der aus der „Torheit der Regierenden“ entsprungene Krieg dürfe zudem nicht nur als Relikt der Vergangenheit betrachtet werden: Noch immer werden Kriege begonnen, ohne zu bedenken, wie man sie beenden kann, so Pfoser, der gleichzeitig auch auf einen aktuellen Krisenschauplatz verweist: „Angesichts mancher Handlungen und Reaktionen in der Ukraine-Krise muss man fürchten, dass aggressive Dummheit weiterhin ihr Unwesen treibt.“

Peter Prantner, ORF.at

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