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Zulauf trotz vermeintlicher Hindernisse

Bereits im Vorfeld waren die Kommunalwahlen in der Türkei zum ultimativen Stimmungstest für Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hochstilisiert worden - und das vor allem durch ihn selbst. Und die bombastischen Inszenierungen zeigten Wirkung: Seine AKP reüssierte, auch in den Städten. Die Angriffsflächen seiner entmachteten Kritiker sind völlig offen - dennoch droht der Türkei eine tiefgreifende Spaltung.

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Denn über 45 Prozent Zustimmung für die Regierungspartei AKP zeigen einerseits zwar die klare Zustimmung für den islamisch-konservativen Kurs der Erdogan-Regierung - selbst Experten sind über das Ausmaß überrascht. Doch je stärker Erdogan polarisiert und je mehr er die weltoffene, urbane Schicht mit Internetverboten gegen sich aufbringt, desto mehr manifestiert sich die Spaltung in der Gesellschaft.

Gegner könnten Stimmung weiter anheizen

Gegenüber den breiten AKP-loyalen und leichtgläubigeren Bevölkerungsteilen nimmt sich diese Gruppe jedoch vergleichsweise klein aus. Dass der Protest gegen den islamisch-konservativen Stil so häufig in gewaltsamen Auseinandersetzungen mit Toten gipfelte, machte Erdogans streitbares Handeln weit über die Landesgrenzen hinaus sichtbar. Die Gruppen hinter den Antiregierungsprotesten werden die Stimmung gegen Erdogan weiter anheizen, auch wenn dessen Handlungsfreiheit nach dem gestiegenen Einfluss der Politik auf Justiz und Polizei größer geworden ist.

Erdogan-Fans feiern Wahlsieg

Reuters/Umit Bektas

Die Gruppe, die sich freut: AKP-Anhänger feiern den Wahlsieg

Apropos Exekutive: Mit gezielten Entmachtungen in den Reihen der Justiz bzw. der Polizei dürfte auch dem Einfluss der Bewegung des Predigers Fetullah Gülen weiter entgegnet werden. Denn bereits Stunden nach dem sich abzeichnenden Wahlsieg drohte Erdogan den politischen Widersachern offen: „Bis in ihre Höhlen“ würden sie verfolgt werden, sie hätten „den Preis zu zahlen“, donnerte Erdogan zahlreichen Anhängern entgegen. Vor den Wahlen hatte die Gülen-Bewegung noch als möglicher Faktor für einen möglichen Sturz Erdogans gegolten, doch letztlich entwickelte sich alles vielmehr ins Gegenteil.

„Böse Mächte“ als Stimmenbringer

Das Gülen-Netzwerk diente offenbar den Ambitionen Erdogans mehr, als es ihnen schaden konnte. Denn die Strategie, diese „dunklen Einflüsse“ als Verhinderer einer noch effizienteren Politik der AKP darzustellen, scheint aufgegangen zu sein. Nun drohen nach Meinung von Experten Verhaftungswellen, die sich im Schatten des vergrößerten politischen Einflusses noch einfacher durchziehen lassen. Auch im Medienbereich wird Erdogan seinen gestiegenen politischen Einfluss wirken lassen - bei Gülen-nahen Medien droht eine Verhaftungswelle.

Tränengaseinsatz bei Demonstration in der Türkei

Reuters/Osman Orsal

Der Wahlsieg der AKP als Etappenniederlage der Protestbewegung

Apropos effiziente Politik - genau darin liegen Experten zufolge die Gründe für den Wahlerfolg der AKP. Maßnahmen wie Internetsperren und Korruptionsaffären zum Trotz genießt Erdogan bei vielen das Image des Machers. Deshalb wählen ihn auch jene, die ihn für korrupt halten. So gehörte auch das Verweisen auf Erfolge der AKP zum Wahlkampfrepertoire Erdogans: das Anwerben von internationalen Investoren für die Wirtschaft, das Errichten neuer Infrastruktur wie etwa der gigantische Ausbau der Istanbuler U-Bahn, das Schaffen eines Gesundheitsversorgungsnetzes. Die AKP generierte sich stimmenwirksam als Stabilitätsbringer und Wohlstandsverbesserer.

Vorwürfe der Wahlfälschung

Doch jene, die Erdogan und seine Partei für korrupt halten, bekommen auch mit der Wahl neuen, vielleicht explosiven Stoff für die kommenden Tage: Denn bereits am Wahltag hatten Beobachter aus dem ganzen Land von Wahlfälschungen und Manipulationsversuchen berichtet. So seien - Angaben von Oppositionellen zufolge - Wähler unter Druck gesetzt worden, den Ja-Stempel unter die AKP zu setzen. Wahlbeobachter seien an manchen Orten dazu angehalten worden, das Wahllokal zu verlassen. Außerdem wurde von Versuchen berichtet, mehrfach Stimmen abzugeben - auch seien vorausgefüllte Wahlzettel aufgetaucht.

Größte Oppositionspartei CHP bei Bekanntgabe des Wahlergebnis

Reuters/Jonny Hogg

Lange Gesichter bei Politikern der oppositionellen CHP

Oppositionelle Zeitungen lahmgelegt

Zudem wurden am Wahltag aus mehreren Städten Stromausfälle gemeldet, so dass die Stimmenzählung im Halbdunkeln stattfinden musste. Auch hier wurde der Vorwurf laut, wonach ein bewusstes Stören der Stimmenzählung herbeigeführt werden sollte. Auch das Übertragen der Ergebnisse in die Datenzentrale soll nicht frei von Stromstörungen verlaufen sein. Über Soziale Medien hatte sich diese Information rasend schnell verbreitet.

Zu allem Überdruss wurden am Wahltag Websites von oppositionellen Zeitungen stundenlang lahmgelegt - eine Berichterstattung über die aktuellen Ereignisse war damit für diese nicht möglich. Noch während der Auszählung kam es zu heftigem Streit zwischen AKP und oppositioneller Republikanischer Volkspartei (CHP), die auf rund 28,5 Prozent kam. Die Kandidaten der Parteien beanspruchten den Sieg in Istanbul und Ankara jeweils für sich. Beide Seiten warfen sich gegenseitig Manipulationen vor. Vizeregierungschef Bülent Arinc (AKP) hatte es schon vorweggenommen: „Die AKP ist Sieger dieser Wahl. Alle andere haben verloren.“

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