Sich Zeit nehmen
Wenn von Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderung die Rede ist, denkt man zuerst an Rampen für Rollstuhlfahrer - ein immens wichtiger Punkt. Vergessen werden dabei jedoch die zahlreichen Hürden für Menschen mit Lernschwierigkeiten. Früher nannte man sie „geistig Behinderte“ - ein Ausdruck, der von vielen Betroffenen als ignorant und beleidigend abgelehnt wird.
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Es gibt in Österreich in allen Bundesländern Organisationen, in denen Menschen mit Lernschwierigkeiten mitarbeiten und einige, die von ihnen komplett autonom geführt werden. Zu letzteren gehört Vienna People First. Die Gruppe bekommt nur dann Unterstützung vom Verein Jugend am Werk, wenn sie diese wirklich braucht. Einige Stunden pro Woche werden Mitarbeiter zur Verfügung gestellt.

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Oswald Föllerer, Vorstand von Vienna People First: „So geht’s nicht“
Allerorten „abgeschasselt“
Vorsitzender von Vienna People First ist Oswald Föllerer, selbst Betroffener - und ein Wiener Urgestein vom Typ „Gewerkschaftsboss in den 70er Jahren“, dazu alleinerziehender Vater von zwei Schulkindern. Er spricht ruhig, mit charmanter Mimik und lässt dennoch stets durchblicken: Wenn es hart auf hart geht, wird Tacheles geredet. Seine wichtigsten Forderungen will er nicht einfach irgendwo deponieren. Er will sie durchsetzen - jetzt und ordentlich, nicht irgendwann und irgendwie.

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Günther Leitner und Irene Stanzl, beide Mitglieder von Vienna People First
In erster Linie geht es dabei um Zeit. Ein kostbares Gut, mit dem immer mehr gegeizt wird. Rechtsanwälte würden als Sachwalter ihre Klienten abschasseln. Es gebe zu wenig persönliche Assistenz, also Unterstützer, die Menschen bei einem selbstbestimmten Leben unter die Arme greifen. Bei Ärzten und in Spitälern sei man auf die speziellen Bedürfnisse nicht eingestellt, genauso wenig wie auf Ämtern. Und: Immer mehr Berufsgruppen werden durch Maschinen ersetzt - die für Menschen mit Lernschwierigkeiten schwer bis gar nicht zu bedienen sind.
Die Leichte Sprache
Bessere Orientierungsmöglichkeiten im öffentlichen Raum und klare Worte statt Amtsdeutsch: Eine Umsetzung dieser Forderungen wäre für viele ein Segen: Menschen, die sehr früh aus dem Bildungssystem herausgefallen sind, Menschen, die der deutschen Sprache (noch) nicht wirklich mächtig sind, Menschen, die aufgrund ihres Alters spezielle Bedürfnisse haben. Besonders betroffen sind jedoch Menschen mit Lernschwierigkeiten.
Die wichtigsten Forderungen
- Weniger Rechtsanwälte als Sachwalter
- Insgesamt weniger Sachwalterschaften
- Mehr Assistenz
- Ein Selbstvertreterzentrum in Wien
- Mehr Information in Leichter Sprache
- Mehr Zeit und Bedacht bei Ärzten, in Krankenhäusern und auf Ämtern
- Zugang zum Arbeitsmarkt
- Flächendeckende Integration statt Sonderschulen
- Die zügige Umsetzung der UNO-Konvention für Menschen mit Behinderung
Föllerer wird bei seinem Gespräch mit ORF.at von den Vienna-People-First-Mitgliedern Günther Leitner und Irene Stanzl begleitet. Die drei stoßen in dasselbe Horn wie Lucia Vock und Sabine Franz, Selbstvertreterinnen des Kompetenzzentrums von Jugend am Werk. Besonders wichtig wären für sie mehr Informationen in sogenannter Leichter Sprache: kurze Sätze, keine Fremdwörter, nicht allzu lange Worte, aktive statt passive Verben, größere Schrift, insgesamt, wo möglich, nicht allzu lange Texte.
Schon alleine daran scheitert eine wirkliche Mitbestimmung, beklagt Föllerer. Bei den Gesprächen in den Ministerien werde die „Schwere Sprache“ verwendet, er und seine Kollegen könnten den Diskussionen über weite Strecken nicht folgen, er fühle sich wie ein Feigenblatt, wie der Alibivertreter einer lästigen Lobby: „Dann gebe ich eben am Ende meinen Senf dazu.“ Föllerer erzählt, dass er in solchen Verhandlungen trotz aller Hürden stur sein kann. Das müsse er auch - weil einfach zu wenig weitergehe.

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Das Motto: sich niemals bevormunden lassen - in welcher Form auch immer
Unterstützung statt Bevormundung
Ein Thema, das allen Beteiligten schon lange im Magen liegt, ist die Sachwalterschaft. Die bedeutet, dass man keine Entscheidungshoheit über seinen Besitz hat. Lucia Vock vom Kompetenzzentrum erzählt, dass sie zuerst von einem Anwalt betreut worden sei. Anwälten eilt bei Betroffenen der Ruf voraus, sich nicht ordentlich zu kümmern. Jetzt ist Vock eine Sachwalterin von einem Verein zugeteilt, da sei alles besser. Die nehme sich Zeit und stelle sämtliche Kontoauszüge zur Verfügung. Ab nächstem Jahr, hofft Vock, kommt sie ganz ohne Sachwalterin aus.
Ohne Sachwalter heißt nicht: ohne Hilfe. Es heißt nur, dass man sich nicht mehr entmündigt fühlt, denn Unterstützung wird trotzdem benötigt, mehr denn je. Erstens gibt es immer mehr Betroffene. Und zweitens wird das Leben komplizierter. Früher hatten Menschen mit Lernschwierigkeiten oft „ihren“ Schalterbeamten bei der Bank ums Eck. Nun muss man entweder mit „Öffis“ zur nächsten „echten“ Filiale pilgern und dort noch saftig extra zahlen, wenn man einen Zahlschein ausfüllen lässt. Oder man begibt sich in den Nahkampf mit den Automaten in den Foyers, mit elendslangen BIC- und IBAN-Nummern, stets von der Angst begleitet, in wichtigen finanziellen Belangen zu scheitern.
Gefangen in der Armutsfalle
Föllerer nennt ein weiteres Beispiel: Früher ist jemand gekommen, um Strom und Gas abzulesen. Heute muss man das selber machen. Dabei vertut man sich bei den langen Ziffernreihen so leicht, und dann heißt es am Ende noch, man habe gelogen. Ein weiterer Horror sind automatische Telefonhotlines statt Kundenbetreuern: „Tippen Sie jetzt ihre Telefonnummer ein. Drücken Sie die Raute-Taste. Wählen Sie die Eins, falls Sie ...“ Ein kleiner Fehler, und es heißt zurück an den Start.

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Im Kompetenzzentrum: Lucia Vock (l.) und Sabine Franz
Die Selbstvertreter zitieren gerne aus der UNO-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung. Gleiche Rechte werden darin versprochen. Gefangen in der Armutsfalle fühlt man sich trotzdem. Irene Stanzl sagt, dass es schon ein Problem darstellt, wenn der 1. auf ein Wochenende fällt und die Mindestsicherung sich dadurch ein paar Tage verzögert. Zudem lauert die Schuldenfalle, wenn man nicht auf Schritt und Tritt aufpasst, Stichwort: unbeabsichtigte, kostenpflichtige Downloads aus dem Internet.
Riesenstress auf dem Bahnhof
Dass Sabine Franz belesen ist, hört man an ihrer ungewohnt geschliffenen Sprache. Sie spricht im Imperfekt und im Plusquamperfekt und wählt jedes ihrer Worte mit Bedacht. Es müsste viel mehr Bücher in Leichter Sprache geben, sagt sie, und dazu Medienangebote für Menschen mit Lernschwierigkeiten. Man kann an einer Gesellschaft nur teilnehmen, wenn man über sie Bescheid weiß. Dafür braucht es Informationen, die man zu verarbeiten im Stande ist.
Ein Dauerthema sind auch öffentliche Verkehrsmittel. Lucia Vock und Sabine Franz erzählen vom Ausflug einer 21-köpfigen Gruppe. Was für ein Stress das Umsteigen am Bahnhof gewesen sei. Den Bahnsteig herausfinden (Displays mit hin und her switchenden Informationen), den Bahnsteig finden (Schilder nicht eindeutig genug). Das Ganze noch möglichst schnell. Kein Wunder, dass einer von ihnen, der ein bisschen mehr Unterstützung braucht als andere, fast verloren gegangen wäre.
Leichte Sprache
Menschen mit Lernschwierigkeiten unterscheiden zwischen Leichter Sprache und Schwerer Sprache. Für Leichte Sprache gibt es Regelwerke: kurze Sätze, kurze Wörter, große Schrift, aktive statt passive Verben und vieles mehr. Man darf das nicht mit „kindlicher Sprache“ verwechseln. Menschen mit Lernschwierigkeiten wollen ernst genommen werden. Dieser Artikel steht, stark gekürzt, auch in Leichter Sprache zur Verfügung - siehe „Die Geschichte in Leichter Sprache“.
Nur keine Hemmungen
Beim Lokalaugenschein in Wiener „Öffis“ und auf dem Westbahnhof vermitteln Föllerer und Leitner ein Gefühl dafür, was es heißt, in einer Welt zu leben, in der sich Menschen zu wenig Mühe geben, Dinge so einfach wie möglich zu organisieren. Überall kleine Schrift, gestelzte Formulierungen auf Hinweisschildern, uneindeutige Pfeile, Automaten mit Touchscreens. Hätten die beiden nicht so viel selbstironischen Humor, müsste man sagen: Es ist zum Verzweifeln - siehe „Bilder eines ‚Hürdenlaufs‘“.
Eine weitere Forderung an die Politik: Leitner hätte gerne, dass es Unternehmen nicht ganz so leicht gemacht wird, mit Abschlagszahlungen keine Menschen mit Behinderung aufnehmen zu müssen. Das Ziel sei es, möglichst viele mit entsprechender Unterstützung am „ersten Arbeitsmarkt“, also dem ganz normalen, und möglichst wenige in Werkstätten unterzubringen. Die Menschen da draußen brauchten nicht so viel Scheu und Hemmungen haben - darin sind sich alle Betroffenen einig.
Wirkliche Teilhabe? Wirkliche Inklusion?
Es ist nicht so, dass nichts passiert. Aber die Mühlen mahlen langsam. Es gibt ein engmaschiges Netz an WGs, verschiedene Abstufungen von betreutem Wohnen, Werkstätten und in geringem Ausmaß sogar begleitetes Arbeiten in Betrieben. Im Gespräch mit ORF.at entsteht der Eindruck, dass man sich betreut fühlt - meist von Menschen, die man gerne hat. Aber wirklich gleiche Rechte wie alle anderen? Wirkliche Teilhabe? Wirkliche Inklusion? Fühlt man sich mittendrin in der Gesellschaft? Nein.
Was bleibt, ist die Grundstimmung, sich nicht ernst genommen zu fühlen. Von vielen diskriminierenden Äußerungen im Alltag wird berichtet, und wie man sich mit Zivilcourage dagegen wehrt. Sabine Franz und Lucia Vock meinen genauso wie Günther Leitner: Würden Menschen mit Lernschwierigkeiten nicht in Sonderschulen „versteckt“, gäbe es in der Gesellschaft viel mehr Verständnis, Miteinander und echte Inklusion. Alle sollten, entsprechend unterstützt, Regelschulen besuchen.
„Behindert ist, wer andere behindert“
Bis dahin scheint es ein weiter Weg zu sein. Es müsste viel mehr über sie berichtet werden, damit die Öffentlichkeit Bescheid weiß, fordern die Betroffenen. Man solle sich bewusst sein: Niemand sei davor gefeit, plötzlich „behindert“ zu sein, im Fall von Unfall oder Krankheit. Klare Sprache kann man von den Selbstvertretern jedenfalls lernen. Ohne herumzuschwurbeln, kommen sie auf den Punkt, markige Slogans werden zitiert oder kreiert.
Lucia Vock: „Behindert ist, wer behindert denkt.“ Sabine Franz: „Behindert ist, wer andere behindert.“ Günther Leitner: „Wir wollen dieselben Rechte haben wie alle anderen auch.“ Und Oswald Föllerer steuert den offiziellen Leitspruch der Selbstvertreter bei: „Nichts über uns ohne uns.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
Simon Hadler (Text), Zita Köver (Fotos), beide ORF.at
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