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4.000 Seiten lang Proust neu denken

Es ist eine beliebte Frage in belesenen Partykreisen: „Jetzt einmal ganz ehrlich - wie weit bist du gekommen bei der ‚Recherche‘?“ Gemeint ist „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust. Aber es gibt Menschen, die das 4.000-Seiten-Werk nicht nur lesen, sondern ins Deutsche übersetzen. Mit wechselndem Erfolg.

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Der erste Satz bleibt immer gleich: „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.“ Doch schon ab dem zweiten Satz kann sich jeder Leser eine Meinung darüber bilden, welche Übersetzung des siebenbändigen Werks dem Original näher kommt oder besser lesbar ist, oder beides. Prousts erster Band „In Swanns Welt“ erschien 1913. Die erste Übertragung der gesamten „Suche“ erschien aber erst in den 50er Jahren.

Literaturhinweis

Marcel Proust (übersetzt von Eva Rechel-Mertens): Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Suhrkamp, drei Bände als Taschenbücher, 4.224 Seiten, 68 Euro.

Ein allererster Versuch, an dem unter anderem Walter Benjamin beteiligt war, war nach drei Bänden vom Zweiten Weltkrieg unterbrochen und nicht wieder aufgenommen worden. Erst Eva Rechel-Mertens legte 1957 eine lückenlose Übersetzung der sieben Bände vor. Ihr Werk gilt bis heute als gelungen - nicht nur, weil es eine literaturhistorische Großtat war. Denn Rechel-Mertens erlag nicht der Versuchung, vor Ehrfucht zu erstarren und an Prousts Worten allzu sehr zu kleben.

Literaturhinweis

Marcel Proust (übersetzt von Eva Rechel-Mertens und Luzius Keller): Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Suhrkamp, sieben Bände, 5.300 Seiten, 98 Euro.

Emotionale Entsprechungen

Darüber sind sich die Rezensenten späterer Übersetzungen einig: Rechel-Mertens Version blieb dem Geist Prousts treu und wagte es trotzdem, emotionale Entsprechungen zu suchen, anstatt wortwörtlich (und sinnferner) zu übersetzen. Ihre „Suche“ gilt bis heute als Standardwerk. Mit fortschreitender Proust-Forschung wurde dennoch ein neuer Anlauf unabdingbar. Diesen wagte Luzius Keller in den 90er Jahren.

Wie die „Neue Zürcher Zeitung“ („NZZ“) schreibt, mit Erfolg: Zahlreiche hilfreiche Kommentare wurden hinzugefügt, da und dort Fehler ausgebessert und nur dort umformuliert, wo Rechel-Mertens nicht ohnehin bereits unumstritten richtig lag. Ganz im Gegensatz dazu sieht die „NZZ“ die nun anlässlich des 100. Jubiläums erschienene Neuübersetzung des ersten Teils, „In Swanns Welt“ von Bernd-Jürgen Fischer. Er soll auch die restlichen sechs Bände bei Reclam in nächster Zeit abliefern.

Literaturhinweis

Marcel Proust (übersetzt von Bernd-Jürgen Fischer): Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Band 1: Auf dem Weg zu Swann. Reclam, 694 Seiten, 29,95 Euro.

Rege Debatte

Fischers allzu sklavische Treue dem Orginal gegenüber geht laut „NZZ“ so weit, dass mitunter der Sinn der Sätze verstellt ist. Ein Beispiel: „Dies ist der Augenblick, da der Kranke, der zu einer Reise gezwungen gewesen ist, in einem unbekannten Hotel hat einkehren müssen und von einem Anfall aufgeweckt wird, sich freut, wenn er einen Streifen Tageslicht unter der Tür entdeckt.“ Keller habe das in den 90er Jahren besser gelöst, heißt es.

Ähnlich sieht das auch die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Hier wurde der neue Text mit Rechel-Mertens deutscher Urfassung verglichen. Diese sei nicht nur schmissiger, sondern oft auch korrekter. Aber nicht alle sehen das so. Das nicht nur in Literaturkreisen angesehene „Deutschlandradio Kultur“ schreibt: „Die neue Übersetzung liest sich flüssig und so modern, wie es dem Original angemessen ist.“

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