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Prousts Weg zur Einkehr

„Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“: Mit seinem als autobiografischer Bericht aufgebauten siebenteiligen Hauptwerk, das 4.000 Seiten umfasst, machte sich Marcel Proust als jener Autor unsterblich, der gemeinsam mit James Joyce die Literatur revolutioniert hat. Vor genau 100 Jahren erschien der erste Band.

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Zu behaupten, man habe Proust gelesen, gehört zumindest für alle, die ein geisteswissenschaftliches Studium absolviert haben, zum guten Ton. In Wahrheit freilich legen viele ihren ersten „Proust“ enttäuscht weg - weil er keinen Handlungsstrang im herkömmlichen Sinn verfolgt. Und das war zu Prousts Zeit neu, empörend und aufregend. Denn im Unterschied etwa zu seinem großen Landsmann Honore de Balzac (1799 bis 1850) und anderen bedeutenden Romanciers richtet sich Prousts Interesse nicht auf eine möglichst getreue Wiedergabe von Wirklichkeit.

Sein Werk ist vielmehr ein komplexes subjektives Unternehmen zur Wiedergewinnung der „verlorenen Zeit“, der Vergangenheit. Der aus einer vermögenden Familie stammende Autor begann sich erst im Alter von über 30 Jahren, nach einem Leben als Snob und Dandy samt verpatztem Jusstudium, ganz der Literatur zu widmen. Dazu trug entscheidend sein an Dramatik zunehmendes Asthmaleiden nach dem Tod der Eltern bei. Eine handfeste Depression kam erschwerend dazu. Er zog sich nun in die Abgeschiedenheit eines Zimmers zurück und schrieb.

Prousts Therapeut als Stichwortgeber

Warum Proust schrieb, wie und was er schrieb, hat entscheidend mit seinem Arzt zu tun, heute würde man von seinem Therapeuten sprechen. Paul Sollier hatte - wie auch Sigmund Freud - bei Jean-Martin Charcot an der Pariser Salpetriere studiert. Solliers Methode bestand darin, verkürzt gesagt, den Patienten zu animieren, sich selbst in Isolation zu begeben und sich „unwillkürlichen Erinnerungen“ auszusetzen.

Für Proust war das ein Arbeitsauftrag: den Fluss assoziativen Erinnerns ungehemmt fließen lassen. Wo das vergangene Geschehen endet, wo die Assoziation beginnt, ist bei diesem Prozess nicht entscheidend. Proust schrieb mit, unermüdlich. So entstand ein emotionales Patchwork seines Lebens und der Gesellschaft um ihn herum: „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“.

Später, großer Ruhm

Proust war erst 51, als er starb. Bis zu seinem Tod war nur etwa die Hälfte von „A la recherche du temps perdu“ veröffentlicht. Als 1913 der erste Teil im Eigenverlag erschien, war die Aufmerksamkeit noch gering. Doch erlebte Proust dann noch, dass er weltberühmt wurde. Sogar der Prix Goncourt, immerhin bis heute die wichtigste französische Auszeichnung für Literaten, wurde ihm verliehen. Er und der Ire James Joyce („Ulysses“) gelten als die bedeutendsten Neuschöpfer in der Epik des 20. Jahrhunderts.

Proust gelang es, flüchtige Gefühlsübergänge, die sich sprachlicher Darstellung entzogen, zu erfassen und hinter alltäglichen Vorgängen die Essenz philosophischer Betrachtungen aufleuchten zu lassen. Sein Freund, der Romanist Ernst Robert Curtius, schrieb über den Autor: „Prousts Stil ist ein Präzisionsinstrument der Erkenntnis. Proust hat neue Reaktionsverfahren entdeckt, die es ihm gestatten, Nuancen und Formvarianten des Seins zu entdecken, die wir übersehen hatten.“

Krankheit und Tod

Über seine Erkrankung und seinen Tod wurde bereits viel geforscht. In einer Studie aus jüngerer Zeit wird angenommen, dass er bei ererbter Schwäche früh Antikörper gegen bestimmte Allergene entwickelt hatte. Sie lösten Spasmen und Entzündungen der Bronchien aus, die durch seelische Erschütterungen (der Tod der Eltern, unglückliche Beziehungen zu Liebhabern) verstärkt wurden. Wesentlich zur Verschlechterung seines Befindens und zu seinem Kräfteverfall trug bei, dass er aus der Beschäftigung mit seinem Leiden mittels der Lektüre medizinischer Bücher falsche Folgerungen zog.

Geschadet habe ihm vor allem, dass er sich in seinem kalten und feuchten Zimmer einschloss, nicht lüftete, Tag und Nacht im Bett blieb und ein schlechtes Asthmamittel in weit überhöhten Dosen inhalierte. Zum Schluss befiel ihn eine bakterielle Lungenentzündung. Prousts Zeit war gekommen, die „Suche nach der verlorenen Zeit“ endgültig abgeschlossen.

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