Was und wie viel ist zu entsorgen?
Der Atomkomplex Sellafield an der Küste Nordwestenglands wirkt so, als seien Dutzende Atomkraftwerke nahtlos aneinandergereiht worden. Das Innere der gigantischen Anlage beherbergt eine unfassbare Menge an atomarem Abfall - und die Entsorgung kostet viel Geld. Ein Untersuchungsbericht der parlamentarischen Finanzaufsicht nannte 2013 die Versäumnisse der zuständigen Behörde beim Namen.
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Die Kosten der Aufräumarbeiten in Sellafield werden derzeit auf 67,5 Milliarden Pfund (77,8 Mrd. Euro) geschätzt. Doch als wäre diese nackte Zahl nicht beunruhigend genug, sorgen vor allem die weiteren Aussichten für Entsetzen beim britischen Steuerzahler.
Kosten schlummern in Silos und Becken
So geht aus dem Bericht der National Audit Office (NAO) hervor, dass man offensichtlich nicht genau weiß, was es überhaupt zu entsorgen gilt. So gebe es keine Information über die Art der zu behandelnden Abfälle, die in den Silos und Becken gelagert sind. Deshalb seien weitere Kostensteigerungen nicht auszuschließen, hieß es in einem Bericht der BBC, der sich auf die vorliegende Untersuchung beruft.

Reuters/Phil Noble
9.000 Arbeitsplätze: Für die Region ist die Anlage wirtschaftlich bedeutsam
„Enorme Menge“ radioaktiver Abfälle
In Sellafield habe sich eine „enorme Menge“ von radioaktiven Abfällen aufgetürmt, schreibt Margaret Hodge, Vorsitzende der Rechnungsprüfungskommission im britischen Unterhaus, in einer Mitteilung im Februar. Die Regierungen seien gekommen und gegangen - das Problem sei über Jahrzehnte verschleppt worden. Keine Regierung habe es auch nur annähernd in den Griff bekommen. Zudem gebe es massive Verzögerungen bei der Dekontamination, und zum Teil hätten private Unternehmen Zahlungen ohne Gegenleistung erhalten.
Brennstäbe für Fukushima
Bis zur Reaktorkatastrophe in Fukushima befand sich in Sellafield eine Brennelementefabrik für Mischoxid-Brennelemente. In der Anlage wurden aus Plutonium- und Uranmüll die mit hochgiftigem Plutonium versetzten Brennstäbe hergestellt, die auch nach Japan exportiert wurden. Seit der Eröffnung 2001 schrieb man damit stets rote Zahlen - Steuerzahler kostete das 1,4 Mrd. Euro.
Die NAO zweifelt zudem offen daran, dass man die Lage jetzt in irgendeiner Form in den Griff bekommen habe - der oft gepriesenen, zuversichtlichen Selbstdarstellung der britischen Atomaufsichtsbehörde, Nuclear Decommissioning Authority (NDA), zum Trotz. Dieser verlängerte Arm der Regierung hat seit 2005 die Aufsicht über die Stilllegung, Reinigung und Demontage von Infrastrukturen.
Neben einer Fabrik für Brennelemente befinden sich auf dem Territorium ein stillgelegtes Atomkraftwerk und Anlagen für Atommüll. Im Zuge der Einrichtung der NDA sind die Anlagen in ihr Eigentum gewandert, während die notwendigen Arbeiten meist von beauftragten Organisationen und Unternehmen ausgeführt werden.

Reuters/David Moir
Der riesige Komplex besteht seit den 50er Jahren
Wohin mit dem atomaren Abfall?
Es ist zudem unklar, wie lange die Aufräumarbeiten dauern werden, und wie viel Geld sie kosten werden. Zudem stellt sich die zentrale Frage nach der definitiven Entsorgung. So hält die NAO den Entsorgungsplan der NDA für lückenhaft und spricht von „Unsicherheiten“. Auch sei bis dato keine Endlagerstätte festgelegt worden.
Diese unsicheren Umstände gestalten die Zusammenarbeit mit beauftragten Firmen besonders schwierig, diese seien die Urheber für fehlerhafte Kalkulationen. So erhielten die zurzeit federführende Firma Nuclear Management Partners und auch andere Firmen Zahlungen für Leistungen, die zu keiner Zeit erbracht wurden.
Verheerende Brandkatastrophe
Im Oktober 1957 brach im Reaktor von Windscale - wie die Sellafield-Anlage damals genannt wurde - ein Feuer aus. Der Reaktor diente der Erzeugung von Plutonium für den Bau von Atombomben. Es war einer der schwerwiegendsten Atomunfälle vor der Katastrophe von Tschernobyl am 26. April 1986.
„Tschernobyl in Zeitlupe“
Greenpeace nennt Sellafield ein „Tschernobyl in Zeitlupe“. Die Küstenstreifen rund um die Atomanlage seien Plutonium-Müllkippen. Der Geigerzähler zeige höhere Radioaktivitätswerte als in der Sperrzone rund um die Atomruine in der Ukraine, heißt es. Vor einigen Jahren wies eine wissenschaftliche Studie im Auftrag der Regierung auf eine ungewöhnliche Häufung von Blutkrebserkrankungen bei Kindern in der Gegend hin - ein Zusammenhang mit Sellafield konnte allerdings nicht nachgewiesen werden.
Der letzte verheerende Unfall in Sellafield geschah im April 2005: Damals wurde in ein Leck entdeckt, durch das etwa 83.000 Liter einer hochradioaktiven Flüssigkeit - bestehend aus Salpetersäure, Uran und Plutonium - monatelang unbemerkt entweichen konnten. Die Flüssigkeit wurde jedoch in der Anlage aufgefangen. Nach Angaben des Betreibers sind Teile der Anlage stark kontaminiert - das Risiko einer Kontamination habe für die Umwelt nie bestanden. Die Öffentlichkeit wurde erst Wochen danach informiert.
Entscheidungen weitergereicht
Der Chef der britischen Atomaufsichtsbehörde, John Clarke, versuchte den neuen Bericht gegenüber der BBC zu relativieren: Vor der Installierung der NDA habe es gar keinen Plan für den Rückbau von Sellafield gegeben - die „schwierigen Entscheidungen“ seien „nachfolgenden Generationen“ überlassen worden.
„Nachdem wir uns der Herausforderung stellen, gibt es erstmals einen Plan für die Stilllegung von Sellafield“, so Clarke. „Natürlich geht in Zusammenhang mit einer derart komplexen und hochtechnischen Aufgabe nicht alles reibungslos vonstatten. Diese Probleme weist der Bericht auch zurecht aus“, räumt Clarke ein.
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