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„Bewusstsein für Gefahr fehlt“

Seit Monaten weiß man, dass immer noch radioaktives Material aus dem havarierten japanischen Atomkraftwerk Fukushima I austritt. Der angeschlagenen Betreiberfirma TEPCO wird vorgeworfen, zu wenige Maßnahmen zur nachhaltigen Reparatur zu unternehmen. Nun spitzt sich die Lage zu.

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Denn das radioaktiv verstrahlte Grundwasser überwand Behörden zufolge offenbar eine unterirdische Barriere und wird vermutlich ins Meer fließen. Das Wasser steige mit „einer ziemlich hohen Wahrscheinlichkeit“ weiter in Richtung Oberfläche auf, sagte Shinji Kinjo von der Atomaufsichtsbehörde am Montag. Dann werde das kontaminierte Wasser sehr schnell ins Meer fließen. „Im Moment liegt eine Notfallsituation vor“, sagte er.

Dem Betreiber TEPCO fehle jedoch „das Bewusstsein für die Gefahr“. Die Pläne zum Abpumpen des Grundwassers brächten nur einige Monate Zeit. Ein TEPCO-Sprecher erklärte, das Unternehmen ergreife verschiedene Maßnahmen, um ein Auslaufen des verstrahlten Wassers in die nahe gelegene Bucht zu verhindern.

Behälter für verstrahltes Wasser bald voll

Die Zeitung „Asahi Shimbun“ hatte am Samstag berichtet, das Wasser könne innerhalb der kommenden drei Wochen an die Oberfläche treten. TEPCO muss demzufolge jeden Tag 100 Tonnen Wasser abpumpen, um den Abfluss in den Ozean zu verhindern. Das Unternehmen wisse aber nicht, wohin mit der Menge. Die Speicher, die 380.000 Tonnen Wasser aufnehmen können, seien zu 85 Prozent gefüllt.

Unklar war zunächst, welche unmittelbare Gefahr durch den Anstieg des verstrahlten Grundwassers droht. Nach der Reaktorkatastrophe 2011 hatte die Regierung TEPCO erlaubt, als Notfallmaßnahme Zehntausende Tonnen radioaktives Wasser in den Pazifik zu schütten.

Nur notdürftige Reparaturen

Die Arbeiter an der bei einem Erdbeben und einem anschließenden Tsunami vor zwei Jahren zerstörten Anlage wurden nach eigener Darstellung angewiesen, unter Hochdruck neue Behälter für das kontaminierte Wasser zu bauen, zumal der verfügbare Speicherplatz knapp werde. „Uns wurde gesagt, dass es ein Notfall ist und dass wir den Bau der Wassertanks beschleunigen müssen, egal wie“, sagte ein Arbeiter, der seinen Namen nicht nennen wollte, weil er sich gegenüber den Medien nicht offiziell äußern darf. „Es gibt eine Menge provisorische Reparaturen. Sie hangeln sich von einer notdürftigen Reparatur zur nächsten“, fügte er hinzu.

Erst vor kurzem war bei einem unweit des havarierten Kraftwerks gefangenen Fisch ein Rekordwert radioaktiver Belastung festgestellt worden. Der Kraftwerksbetreiber habe bei dem Fisch 740.000 Becquerel Cäsium pro Kilogramm gemessen, meldete die japanische Nachrichtenagentur Kyodo. Der Wert entspricht dem 7.400-Fachen dessen, was die staatlichen Behörden als unbedenklich für den Konsum einstufen.

Der bisherige Rekord lag bei einer Cäsium-Belastung von 510.000 Becquerel je Kilo. Der Fisch wurde vor der Küste Fukushimas gefangen. Das Fischen dort unterliegt Beschränkungen.

Zu wenig Hilfe für Betroffene

Bei der Zerstörung des Atomkraftwerks hatte sich in drei Reaktoren eine Kernschmelze ereignet. Radioaktivität trat in die Luft, in den Boden und ins Meer aus und wurde auch in Lebensmitteln gefunden. Rund 160.000 Menschen mussten ihre Wohnungen verlassen. Zwar hat die schlimmste Atomkatastrophe seit Tschernobyl selbst kein einziges direktes Todesopfer gefordert. Die japanische Tageszeitung „Tokyo Shimbun“ wies jedoch unlängst auf der Titelseite ihre Leser darauf hin, dass als indirekte Folge der Atomkatastrophe bisher rund 800 Menschen wegen der langen Evakuierungsdauer und Stress gestorben seien.

Hilfskräfte in den betroffenen Regionen beklagen, dass nicht genug gegen das seelische Leid der Menschen getan werde. Viele der meist alten Menschen vereinsamten, weil sie mit niemandem sprechen könnten. Immer öfter ist vom „einsamen Tod“ die Rede. Die Opfer in den Containerhäusern, von denen viele früher Bauern und Fischer waren und jetzt nichts mehr zu tun haben, würden immer öfter krank, manche verfielen dem Alkohol.

Zehntausende Krebserkrankungen befürchtet

Kritiker werfen dem japanischen Staat und den Medien vor, die Folgen der Katastrophe noch immer herunterspielen zu wollen. Nach neuen Berechnungen der Medizinerorganisation Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) wird es allein durch die äußere Strahlenbelastung 40.000 bis 80.000 zusätzliche Krebsfälle in Japan geben. Außerdem erwarten die Wissenschaftler noch gut 37.000 zusätzliche Krebserkrankungen durch strahlenbelastete Nahrungsmittel.

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