Vampire, Waldmenschen und Hippies
In der Prosa und Lyrik der Saison kommen Freaks zu Wort: Jörg Fauser, Vampire, Waldmenschen, Hippies und vegane Sektengründer. Die psychisch-charakterliche Exotenbeschau bleibt aber nicht an der Oberfläche - sie geht tief und zieht den Leser mit hinunter in einen Strudel guter Literatur.
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Natürlich kommen neben Außenseitern auch die Liebe, das Verbrechen und die Selbstfindung zu ihrem literarischen Recht.
Hoch die Fahne für die Trinker
Jörg Fausers Tod jährt sich heuer im Sommer zum 25. Mal. Er schrieb nicht nur Romane und Essays, sondern auch Gedichte und Songtexte. Legendär ist etwa „Boxer Kutte“, von Achim Reichel vertont. Fauser hat sich nicht nur alle Mühe gegeben, trotz seines überragenden Talents das Leben eines Losers zu führen - er verschrieb sich auch im Schreiben den Drogensüchtigen, Säufern und Prostituierten und schuf solchermaßen kraftvolle Poesie: „Heilige Johanna steck dir Feuer ins Haar / Die Trinker machen noch einen drauf / Die Welt ist so schön wie sie immer war / Die schwarze Fahne ist obenauf.“
Jörg Fauser: Trotzki, Goethe und das Glück. Gesammelte Gedichte und Songtexte. Diogenes, 408 Seiten, 11,30 Euro.

ORF.at/Thomas Hangweyrer
Die ganze Wahrheit über Tarzan
Tarzan war ein Serienmörder. Der Dschungelheld konnte perfekt Englisch lesen und schreiben, bevor er zum ersten Mal auf andere Menschen traf. Und Jane schmolz angesichts seiner Muskeln dahin. All das erfährt man, wenn man die einerseits drastischen, brachialen, rassistischen, sexistischen - und andererseits ungemein spannenden und zivilisationskritischen Originalbücher von Edgar Rice Burroughs liest, von denen anlässlich des 100-jährigen Jubiläums nun drei auf Deutsch erschienen sind. Mit den romantischen Kinderfilmen hat das nicht viel zu tun; mit einem erhellenden Nachwort des deutschen Schriftstellers und Filmkritikers Georg Seeßlen.
Edgar Rice Burroughs: Tarzan. Drei Abenteuerromane. Walde und Graf, 500 Seiten, 27,80 Euro.
Ein Sonnenorden im Pazifik
Christian Kracht galt in den 90er Jahren als einer der wichtigsten Vertreter der Popliteratur. Wie viele seiner Genregenossen geht er längst andere Wege. „Imperium“ ist ein historischer Roman mit realem Hintergrund: August Engelhardt lebte vor hundert Jahren, war Vegetarier, esoterisch veranlagt und gründete auf einer Insel im Pazifik einen „Sonnenorden“. Sein Credo: Wenn man nackt herumläuft und sich ausschließlich von Kokosnüssen ernährt, wird man automatisch ein besserer Mensch. Das klappte nicht - reicht aber Kracht für einen humorvollen, philosophischen Abenteuerroman. Dass die Veröffentlichung eine Nazi-Debatte nach sich zog, darf verwundern.
Christian Kracht: Imperium. Kiepenheuer und Witsch, 242 Seiten, 19,60 Euro.
Tierschützer als neue Hippies
Der US-amerikanische Schriftsteller T. C. Boyle ist 63 Jahre alt, er hat die 60er miterlebt, und in seinem neuen Roman „Wenn das Schlachten vorbei ist“ widmet er sich der neuen Generation von Hippies - den Tierschützern. Das spannungsgeladene Buch wirft grundsätzliche Fragen auf: Wie sehr darf man in die Natur eingreifen - und wozu gibt es den Menschen überhaupt? Der Roman wimmelt von Wasserleichen und von Anekdoten; ein Ökothriller mit philosophischem Hintergrund (vgl. Ian McEwans „Solar“), aber auch ein witziger Beziehungsroman mit viel zeitgenössischem Kolorit (in dieser Hinsicht einem Jonathan Franzen nicht unähnlich).
T. C. Boyle: Wenn das Schlachten vorbei ist. Übersetzt von Dirk van Gunsteren. Hanser, 464 Seiten, 23,60 Euro.
Wie glücklich sind Verliebte?
Javier Marias, der große spanische Erzähler, hat sehr zur Freude der spanischen genauso wie der deutschen Kritiker einen neuen Roman vorgelegt. In „Die sterblich Verliebten“ beobachtet eine Frau, aus reiner Freude, täglich ein scheinbar glückliches Paar beim Frühstück im Cafe. Als der Mann getötet wird, beschleicht sie ein Verdacht: Kennt sie den Mörder? Marias Prosa ist gleichermaßen einfühlsam wie packend. Er ist ein Meister der Beobachtung – und des Suspense.
Javier Marias: Die sterblich Verliebten. S. Fischer, 430 Seiten, 20,60 Euro.
In Rom gestrandet
David Bezmogzis beschwört eine Welt, in der heute viele Menschen leben (müssen), nämlich jene des Dazwischen, des Transitorischen: die Welt der Flüchtlinge und Auswanderer. Bei ihm sind es sowjetische Juden, die Ende der 70er Jahre in Rom Zuflucht finden, eigentlich aber weiterreisen wollen. Am Mikrokosmos einer Familie fächert Bezmogis mit viel Charme die verschiedenen Möglichkeiten auf, sich dem Schicksal gegenüber zu verhalten: hoffnungsfroh, verzagt, kämpferisch. Die „New York Times“ nennt den 1973 geborenen US-Kanadier wegen dieses Deüts bereits einen der wichtigsten jüdischen Schriftsteller des 21. Jahrhunderts.
David Bezmozgis: Die freie Welt. Kiepenheuer & Witsch, 349 Seiten, 23,70 Euro.
Auf den Straßen mit den Cops
Gavin Knight ist Polizeireporter, er arbeitet für den „Guardian“ und andere britische Zeitungen. Für „The Hood“ hat er seine langjährigen Erfahrungen zusammengetragen. In drei semidokumentarischen Geschichten schildert er das Leben auf der Straße, in den Hinterhöfen und den schummrigen Ecken von Klubs. Er beobachtet dabei drei fiktive Polizisten bei ihrer Arbeit. Durch das fiktionale Element erhöht er die Spannung. Durch Hunderte Interviews, die er geführt hat, erreicht er dennoch jenen Grad an Authentizität, der vor ihm nur David Simon mit „The Wire“ attestiert worden war; hintergründig, unaufgeregt und nichtsdestoweniger fesselnd.
Gavin Knight: The Hood. Ullstein, 298 Seiten, 15,50 Euro.
Lustvolle Lektüre auf höchstem Niveau
August Strindberg, der vor 100 Jahren verstorbene schwedische Modernisierer von Literatur und Theater, war mit seinem satirischen Roman „Das rote Zimmer“ bekannt geworden. Er arbeitete zu diesem Zeitpunkt als Journalist und nahm in dem auch heute noch mit Gewinn zu lesenden Buch seine kreative Umgebung - mit ihrem Leben zwischen Prekariat, Party und Selbstüberschätzung - genauso auf die Schaufel wie die Bürger- und Beamtenschaft Schwedens. Nun ist das Buch von Renate Bleibtreu hervorragend neu übersetzt und editiert worden; ein Klassiker, den man nicht lesen sollte, damit man ihn auf einer Liste abhakt - sondern weil er lustvolle Lektüre auf höchstem Niveau bietet.
August Strindberg: Das rote Zimmer. Mit einem Nachwort von Peter Henning. Manesse, 570 Seiten, 25,70 Euro.
Der einzig wahre Vampir - in neuem Kleid
Bram Stoker erlebte den Welterfolg seines epochemachenden und bis heute unerreichten Vampirromans „Dracula“ nicht mehr. In Übersetzungen und Verfilmungen wurde sein Buch oft als Schauerroman weit unter Wert verkauft. Nun hat Andreas Nohl das Werk neu ins Deutsche übertragen - und siehe da, es tritt neben Spannungsliteratur auch ein kluges Reflektieren über die Anfänge der Aufklärung in einer feindlichen Umwelt zutage. „Twilight“-Teenies mag das nerven, allen anderen sei die Lektüre dringend ans Herz gelegt.
Bram Stoker: Dracula. Steidl, 590 Seiten, 28,80 Euro.

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Die unbekannte „Odyssee“
Der Computertechniker Zachary Mason hat sich für sein Literaturdebüt keinen leichten Stoff ausgesucht. Er schreibt in 44 Miniaturen eine Alternativ-„Odyssee“, als ob noch zusätzliche Schriftstücke in Griechenland gefunden worden wären. Dabei spielt er mit dem Original genauso wie mit unterschiedlichen literarischen Formen. Er bestreitet das Unternehmen so humor- und kunstvoll wie kenntnisreich; ein Heidenspaß für Altphilologen.
Zachary Mason: Die verlorenen Bücher der Odyssee. Suhrkamp, 230 Seiten, 23,60 Euro.
Reisen durch die Seelenlandschaft
Büchner-Preis-Träger Walter Kappacher gilt als Meister der leisen Töne – und als solcher erweist er sich auch mit seinem neuen Roman „Land der roten Steine“. Darin erzählt er in drei Teilen die Geschichte eines alternden Salzburger Allgemeinmediziners, der sich um sein Leben, das wahre Leben, betrogen fühlt und sich deshalb auf eine kontemplative Reise in die Canyons der USA aufmacht. Dort kommt der Arzt dem Sinn des Lebens näher, und nimmt den Leser in eine überwältigende, stille Natur- und Seelenlandschaft mit.
Walter Kappacher: Land der roten Steine. Hanser, 160 Seiten, 18,40 Euro.
Raymond Carver: Die Kürzungen gestrichen
Raymond Carver rang mit sich selbst, vor allem aber mit seinem legendären Lektor und Freund Gordon Lish, als sein gefeierter Kurzgeschichtenband „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“ erscheinen sollte. Bis zu 70 Prozent war in den Geschichten zusammengekürzt worden. Nun veröffentlichte seine Witwe die Originalversion unter dem Titel „Beginners“. Die Geschichten vom amerikanischen (Alb-)Traum sind ausgeschmückter und insgesamt mehr von menschlicher Milde geprägt – ob besser, sei dahingestellt, jedenfalls gänzlich anders, und hier wie dort ein Gewinn.
Raymond Carver: Beginners. Uncut. S. Fischer, 362 Seiten, 22,70 Euro.
Wie vom Erdboden verschluckt
Längst hat sich die Clique in alle Winde zerstreut. Doch nach vielen Jahren trifft man sich auf einer Berghütte wieder, um zu sehen, was aus allen wurde. Jener Freund, an dem sich die Gruppe damals versündigt hatte, kommt nicht. Als einer nach dem anderen spurlos verschwindet, gilt es die Panik zu bekämpfen und sich Fragen nach Schuld und Sühne zu stellen. Doch plötzlich scheint die gesamte Zivilisation wie vom Erdboden verschluckt. David Monteagudos Endzeitroman erinnert an Cormac McCarthy und Thomas Glavinic. In Spanien wurde das Buch von „El Mundo“ und „El Pais“ gefeiert - übertrieben vielleicht; dennoch: allemal eine spannende Strandlektüre.
David Monteagudo: Ende. Rowohlt, 348 Seiten, 20,60 Euro.

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Peter Handke erklärt die Liebe
Ein Mann, eine Frau und ein Gespräch über die Liebe und Sex: War „Immer noch Sturm“, das letzte Stück Peter Handkes, eine umfassende Aufarbeitung seiner persönlicher Familiengeschichte, ging der Autor mit seinem jüngsten Werk „Die schönen Tage von Aranjuez“ wieder universellere Wege. „Keine Handlung, nur Dialog“ lautet die Prämisse des Stücks, in dem zwei „zeitlose Gestalten“ „unauffällig sommerlich gekleidet“ über ihre „Fick- und Vögeljahre“ sprechen. Die Uraufführung des Texts bei den Wiener Festwochen wurde von der Presse kontrovers aufgenommen. Vielleicht weil die Poesie und die zahlreichen Zitate und Anspielungen Handkes in diesem Stück eher als Lesedrama funktionieren.
Peter Handke: Die schönen Tage von Aranjuez. Suhrkamp, 70 Seiten, 12,99 Euro.
Gefangen im Kreativturm
Der kleine Salzburger Arovell-Verlag bietet (unter anderem) jungen Autoren die Chance auf eine betreute Erstveröffentlichung. Silvia Hlavin hat für ihr Debüt „Sein Rosenturm“ eine komplizierte Konstruktion gewählt, die dennoch nicht überfrachtet geriet: Zwei Stipendiatinnen dürfen auf einem einsamen Leuchtturm eine Zeitlang malen und schreiben. Die gänzlich unterschiedlichen Frauen drohen sich zu bekriegen. Der zweite Handlungsstrang ist die Erzählung, die eine von ihnen schreibt - über die halb erfundene Familiengeschichte der anderen (Ungarn-Krise, Auswanderung nach Österreich). Während die Charaktere vielleicht allzu unaufgeregt geraten sind, wird ihre Geschichte mit viel Gespür für strukturelle und sprachliche Ökonomie erzählt. Den Namen Hlavin sollte man im Gedächtnis behalten.
Silvia Hlavin: Sein Rosenturm. Arovell Verlag, 258 Seiten, 12,90 Euro.
Psychoanalyse in der Hauptrolle
Der gefeierte schottische Romancier William Boyd hat mit „Eine große Zeit“ einen Agententhriller und gleichzeitigen Entwicklungsroman vorgelegt. Groß war die Erwartungshaltung in Österreich, weil die Handlung des Buches im Wien zur Zeit des Ersten Weltkriegs angesiedelt ist und neben dem jungen aufstrebenden Schauspieler Lysander Rief auch die Psychoanalyse eine Hauptrolle spielt. Das Buch ist überraschend einfach gestrickt und enthält - gerade über die Psychoanalyse - Plattitüden ohne Ende. Weil die englischsprachige Kritik aber über alle Maßen begeistert war, sei auch hier auf das Buch hingewiesen.
William Boyd: Eine große Zeit. Berlin Verlag, 446 Seiten, 23,60 Euro.
Simon Hadler, Sophia Felbermair, ORF.at
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