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Wolf im Schafspelz?

Der Islamistenführer Rachid Ghannouchi gilt als der große politische Gewinner der Revolution in Tunesien. Obwohl der bärtige 70-Jährige am Sturz von Langzeitherrscher Zine el-Abidine Ben Ali kaum einen Anteil hatte, konnte er innerhalb weniger Monate einen erheblichen Anteil der Bevölkerung um seine 1981 gegründete Ennahdha-Bewegung scharen.

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Ghannouchi profitierte Beobachtern zufolge vor allem davon, dass Ben Ali für traditionsbewusste Muslime ein Hassobjekt darstellte. Der Ex-Machthaber war für seinen ausschweifenden Lebensstil bekannt und ließ Frauen verfolgen, die die islamische Kopfbedeckung Hidschab trugen. Die Ennahdha war unter ihm verboten. Doch gleichzeitig spaltet Ghannouchi das Land. Liberale Tunesier halten den Imam-Sohn für einen Wolf im Schafspelz.

„Modern“ mit „islamischem Weltbild“

In den vergangenen Monaten versuchte der Ennahdha-Spitzenpolitiker alles, um seiner Partei ein modernes Bild zu verpassen und Extremismusängste zu zerstreuen. Worte wie „Gottesstaat“ und „Scharia“ nimmt der Vater von sechs Kindern nicht in den Mund, stattdessen redet er viel von Demokratie und Glaubens- und Meinungsfreiheit.

Auch seine Parteianhänger blasen in dasselbe Horn. Ennahdha („Wiedererweckung“) sei „eine moderne Partei vor dem Hintergrund eines islamisch geprägten Weltbildes“ und insofern „weitgehend vergleichbar mit den Christdemokraten in Deutschland oder Italien“, sagte eines der Führungsmitglieder, Samir Dilou. So ist im Parteiprogramm das Recht der Frauen auf Arbeit und die Kleidungsfreiheit festgehalten, gleichzeitig will man aber den „Missstand“ der späten Heirat und der vielen Scheidungen beheben.

Verfolgt und verboten

Wegen der Verfolgung durch das Ben-Ali-Regime verbrachte Ghannouchi die letzten beiden Jahrzehnte in London im Exil. 1987 war er erstmals zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt worden. Nach einer Begnadigung bekam er dann 1992 wegen angeblicher Umsturzpläne eine lebenslange Haftstrafe. Da war Ghannouchi allerdings schon aus dem Land geflüchtet. Die Partei wurde verboten, und etwa 30.000 Mitglieder wurden eingesperrt, Hunderte verließen Tunesien.

Doch auch in der Zeit, als die Partei per Strafe verboten war, operierten die Anhänger weiter im Untergrund. Vor allem auf dem Land sind sie in der Bevölkerung gut vernetzt, auch durch jahrelange karitative Arbeit.

Regierung ja, Präsident nein

Ein Präsidentenamt strebe weder er noch ein anderes Mitglied der Partei an, versicherte Ghannouchi immer wieder. Sehr wohl hoffe er aber, dass seine Partei ein starker Koalitionspartner in einer neuen Regierung wird, so Ghannouchi im Vorfeld der Wahl. „Wir suchen eine Einigung mit den anderen Parteien, weil wir glauben, dass Tunesien die nächsten fünf Jahre eine Koalitionsregierung braucht,“ so Ghannouchi, „die Probleme in dem Land können nicht von einer einzelnen Partei gelöst werden.“

Seine große Beliebtheit verdankt Ghannouchi auch dem Umstand, dass er im Wahlkampf immer wieder das Hauptproblem in Tunesien angesprochen hat: die hohe Arbeitslosigkeit. Seine Partei werde 590.000 Jobs in den nächsten fünf Jahren schaffen und damit die Arbeitslosigkeit auf 8,5 Prozent senken, kündigte er bei Wahlkampfveranstaltungen an und legte damit den Finger in die Wunde. Vor der Revolution waren über 14 Prozent der Menschen ohne Arbeit, im Herbst lag die Arbeitslosigkeit bei 19,8 Prozent.

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