Proteste in Aufnahmelagern
Innerhalb von 48 bis 60 Stunden möchte Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi das Flüchtlingsproblem auf Lampedusa lösen. Spätestens bis Samstag soll Lampedusa „nur noch von Einwohnern bewohnt“ werden. Seit Beginn der Unruhen in Nordafrika sind auf der italienischen Insel rund 20.000 Flüchtlinge angekommen. Im gesamten Jahr 2010 waren es 4.000.
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Die Aufnahmelager sind für 850 Flüchtlinge ausgerichtet. Nach einem Evakuierungsplan der italienischen Regierung sollen sechs große Marineschiffe die rund 6.000 auf der 20 Quadratkilometer großen Insel vor allem aus Tunesien Gestrandeten nach Behördenangaben in Aufnahmelager auf Sizilien, in die südöstliche Region Apulien und möglicherweise auch in die Toskana gebracht werden.
Am Donnerstag wurden die ersten 2.500 tunesischen Migranten an Bord von zwei Schiffen und einigen Flugzeugen Richtung Süditalien weggebracht. Am Freitag wurde der Transport aufgrund starken Westwinds und hohen Seegangs vorübergehend gestoppt. Am Abend sollten noch rund 4.000 Flüchtlinge eingeschifft werden.
Staatssekretär zurückgetreten
Neben Zeltstädten sollen auch leerstehende Kasernengebäude für die Bootsflüchtlinge hergerichtet werden. Über das Wochenende sollen nun 7.000 Zelte in verschiedenen Regionen Italiens aufgebaut werden, um den Migranten eine vorübergehende Unterkunft zu geben. Berlusconi will, dass jede einzelne italienische Region im Verhältnis zu ihrer Bevölkerung Migranten aufnimmt.
Das Flüchtlingsdrama sorgt für Streit in der Koalition. Der Staatssekretär im Innenministerium, Alfredo Mantovano, trat am Mittwochabend aus Protest gegen den Beschluss der Regierung zurück, zusätzliche 1.400 Migranten in seine süditalienische Heimatregion Apulien zu bringen. Aus demselben Grund trat auch Paolo Tommasino, Bürgermeister der apulischen Kleinstadt Manduria, zurück, in der bereits eine Zeltstadt für Migranten aufgebaut wurde.
Widerstand in Regionen
Die Regionen leisten gegen Berlusconis Pläne erheblichen Widerstand. In Apulien, auf Sizilien und in Pisa kam es zu Protesten. Innenminister Roberto Maroni reagierte scharf darauf: „Das ablehnende Verhalten gegenüber Flüchtlingen und Migranten ist nicht gerechtfertigt. Wir erleben einen akuten Notstand, der nur mit Hilfe aller Regionen Italiens bewältigt werden kann.“
„Die Entscheidung darüber wurde in Rom getroffen. Für die betoffenen Regionen war es schwierig, den Menschen die Situation zu erklären, die sich gegen die Camps wehren. Die Bewohner haben Angst. Das politische Klima in Italien in dieser Frage ist sehr angespannt“, berichtete Laura Boldrini, Sprecherin des UNO-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) in Italien, gegenüber ORF.at.
Untragbare hygienische Zustände
Boldrini begrüßte aber den Transport mit Schiffen. „Wir haben seit Tagen darauf gewartet.“ Das UNHCR und die italienische Opposition hatten untragbare hygienische Zustände auf der Insel beklagt. „Viele schliefen unter Lkws, in Booten und am Hafen“, beschrieb Boldrini die Situation in Lampedusa.
Im Passagierhafen, wo Tausende Einwanderer waren, gab es nur drei provisorische Toiletten, keine Duschen. Für rund 2.000 Immigranten fehlt das Essen, viele mussten die Nächte im Freien verbringen. Andere lebten in improvisierten Zelten und warteten auf den Transport auf das Festland. Einige Tunesier sind aufgrund der katastrophalen Bedingungen in einen Hungerstreik getreten.

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Marineschiffe bringen Flüchtlinge von Lampedusa zum Festland.
Selbst der italienische Gesundheitsminister Ferruccio Fazio gab zu, dass „aus Sicht der Hygiene die Situation wirklich beunruhigend ist“. Auch Italiens Staatschef Giorgio Napolitano hatte von einer „inakzeptablen“ Situation gesprochen.
Aufstand der Einwohner
Die rund 4.500 Einwohner der Inseln Lampedusa gingen in den vergangenen Tagen auf die Barrikaden aus Angst vor Gesundheitsgefahren und einem Einbruch des Tourismus - neben der Fischerei eine Haupteinkommensquelle. Aus Protest gegen die ihrer Ansicht nach lasche Haltung der italienischen Regierung in der Flüchtlingsfrage besetzten Aktivisten das Rathaus auf Lampedusa und drohten auch eine Blockade der gesamten Insel an. Einige Fischer hatten vorübergehend den Hafen blockiert, um das Eintreffen weiterer Flüchtlinge zu verhindern.
Urlaubsinsel Lampedusa
Aus Lampedusa soll wieder eine Urlaubsinsel werden. Um seine Ziele zu bekräftigen, erwarb Berlusconi demonstrativ eine eigene Villa mit Meerblick auf Lampedusa um 1,5 Millionen Euro. Als „neuer Einwohner“ der Insel verpflichtet er sich, für die Entwicklung Lampedusas zu arbeiten: „Lampedusa wird wieder zum Paradies werden“, versprach Berlusconi gleichzeitig auch Steuervergünstigungen.
Er will die Insel sogar für den Friedensnobelpreis vorschlagen: „Die Insel ist der Grenzort geworden zwischen Gesellschaften ohne Demokratie, ohne Freiheit, ohne Wohlstand auf der einen Seite und den westlichen Gesellschaften mit Demokratie, Freiheit und Wohlstand auf der anderen Seite“, sagte Berlusconi.

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Berlusconi will, dass Lampedusa „wieder zum Paradies wird“.
Verhandlungen mit Tunis über Abschiebungen
Parallel zu den Verlegungen der Flüchtlinge verhandelt die italienische Regierung bereits mit der neuen tunesischen Führung, sagte Berlusconi. Über 100 Tunesier pro Tag sollen laut Berlusconi demnächst nach Tunesien gebracht werden. Am Montag will der Ministerpräsident selbst nach Tunesien reisen. Italien hatte immer wieder betont, dass es sich bei den Migranten nicht um politische Flüchtlinge handle. „Wir sind zur Zwangsabschiebung bereit, sollte sich Tunesien in den nächsten Tagen nicht für die Rückübernahme der Migranten einsetzen“, betonte Innenminister Maroni Anfang der Woche.
Unterstützt wird Italien dabei von der EU-Kommission. Sie befürwortet die Rückführung tunesischer Flüchtlinge nach Tunesien. „Während die EU den Schutzbedürftigen internationalen Schutz anbietet, müssen wir auch sicherstellen, dass diejenigen, die keinen solchen Schutz benötigen und kein Aufenthaltsrecht in der EU haben, zurückgeführt werden“, erklärten die zuständigen EU-Kommissare Cecilia Malmström. Geld für Italien stehe bereit, auf die Bitte, Flüchtlinge auf andere EU-Staaten zu verteilen, ging die EU-Kommission aber nicht ein.
Erstmals Boot aus Libyen
Ein Ende der Flüchtlingswelle scheint nicht in Sicht zu sein. Täglich treffen weitere Boote mit Hunderten illegalen Einwanderern in Lampedusa ein. Am Sonntag traf an der italienischen Küste erstmals seit Beginn des Aufstands gegen den libyschen Staatschef Muammar Al-Gaddafi ein Boot aus Libyen ein - mit knapp 300 Menschen vor allem aus Eritera und Äthiopien. Libyen hatte illegale Einwanderung in die EU bis vor kurzem strikt bekämpft. „Bis jetzt sind noch keine Libyer gekommen“, sagte Boldrini, „aber wenn der Konflikt in Libyen lange dauert, werden es sicher mehr werden.“
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