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Experten über Gefahren uneinig

Unter schwierigsten Bedingungen und großer Gefährdung ihrer Gesundheit arbeiten die verbliebenen Techniker im Unglückskraftwerk Fukushima I. Die 50 Arbeiter, die am Mittwoch gegen den Super-GAU kämpften, standen sofort im Blickpunkt der Medien - als Helden gefeiert oder als praktisch Todgeweihte betrauert. Am Donnerstag schickte die Betreiberfirma mehr Arbeiter in das Kraftwerk - verrät aber weiter nichts über die Bedingungen in der Ruine.

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Am Donnerstag war nicht einmal klar, wie viele Arbeiter versuchten, das Schlimmste zu verhindern. Die Nachrichtenagentur AP berichtete von 180 Technikern, die Agentur Bloomberg von 320. Ziel der Aufstockung war es, die Teams öfter rotieren zu lassen und damit kürzer der gefährlichen Strahlung an den Reaktoren auszusetzen. Medienberichten zufolge sollen sie jeweils nur für 15 Minuten in den Trümmern bleiben.

Bereits zuvor hatte das japanische Gesundheitsministerium den Grenzwert für Arbeiter von 100 auf 250 Millisievert pro Stunde erhöht. Welchen Wert die Strahlung in dem Katastrophenkraftwerk erreicht, dazu gibt es keine verlässlichen Angaben, von mehreren hundert Millisievert pro Stunde war die Rede.

Freiwillige Helfer

Der AKW-Betreiber TEPCO hatte zuvor einen offenbar erfolgreichen Ruf nach freiwilligen Helfern zur Abwendung einer nuklearen Katastrophe gestartet. Auf das Ersuchen des Unternehmens hätten sich sowohl Firmenmitarbeiter als auch Mitarbeiter anderer Unternehmen gemeldet, berichtete die japanische Nachrichtenagentur Jiji am Donnerstag.

Darunter sei ein kurz vor der Pension stehender 56-Jähriger mit jahrzehntelanger Erfahrung im Bereich der Kernenergieproduktion. TEPCO berichtete zudem, dass auch Soldaten zur Hilfe herangezogen wurden. Sie sollten mithelfen, die Stromversorgung im Kraftwerk wiederherzustellen.

Als „todgeweihte Helden“ in den Medien

Der Einsatz der Techniker wurde von höchster Stelle verlangt: Die japanische Regierung warnte TEPCO mit scharfen Worten davor, Fukushima I aufzugeben. „Sie müssen entschlossen sein, das zu lösen“, zitierte die Agentur Kyodo Premierminister Naoto Kan. Wenn TEPCO die verbleibenden Mitarbeiter zurückziehe, drohe der Firma der Zusammenbruch.

Details über die Mitarbeiter nannte die Firma nicht. Und das befeuerte Gerüchte über die „Fukushima 50“, wie die verbliebenen Arbeiter alsbald in der Presse genannt wurden. Nicht nur die japanische, sondern auch die internationale Presse feierte sie als Helden, die ihr Leben riskieren, um Millionen Menschen vor den Folgen eines Super-GAU zu schützen. In vielen Berichten wurden sie bereits als lebende Tote beschrieben, die den Einsatz mit Sicherheit nicht überleben würden.

Wie groß ist die Gefahr?

Unter Experten ist das zumindest umstritten. „Diese Menschen sind erheblichen Belastungen ausgesetzt“, sagte der Chef der Arbeitsgruppe Strahlungsphysik am Institut für Kern- und Teilchenphysik der Technischen Universität Dresden, Jürgen Henniger. „Bei solchen Einsätzen ist die Gesundheit der Leute meist gefährdet“, sagte er der Nachrichtenagentur dpa. Die Schutzbekleidung könne zwar verhindern, dass radioaktive Stoffe auf die Haut oder in den Körper gelangten. Vor der Strahlung außen schütze sie aber nicht.

Der Präsident der deutschen Gesellschaft für Strahlenschutz, Sebastian Pflugbeil, bezeichnete sie als „Todeskandidaten“. Die gewaltige radioaktive Strahlung sei für sie eine „Katastrophe“, die sie wohl früher sterben lassen werde.

„Wissen offenbar, was sie tun“

Dem widersprach der Strahlenmediziner Franz Kainberger von der Universität Wien scharf. „Hier überschreitet ein Experte seine Kompetenzen“, so Kainberger zur APA. Seinen Berechnungen zufolge seien die Männer auf dem Reaktorgelände nicht in Gefahr - zumindest derzeit. „Die wissen offenbar, was sie tun.“ 4,13 Millisievert pro Stunde seien sie im Moment ausgesetzt.

„Das ist ein ordentlicher Wert“, so Kainberger, relativierte jedoch die Lebensgefahr anhand folgender Berechnungen: Bei 0,2 Sievert (also 200 Millisievert) könne es zu ersten Veränderungen der Blutzellen kommen. „Das spürt man noch nicht, aber es gibt ein erhöhtes Risiko für Zellmutationen.“ Erst bei einem Sievert (1.000 mSv) würden sich erste Anzeichen der Strahlenkrankheit wie etwa Übelkeit zeigen. Absolut tödlich sei eine Dosis von sieben Sievert (7.000 mSv). Auch der Nuklearphysiker Jim Falk von der Universität Melbourne meinte, die Einschätzung „Selbstmordkommando“ sei überzogen.

Schutzanzüge und Atemschutzgeräte

Unter welchen Bedingungen die Techniker arbeiten, ist ebenfalls vollkommen unklar: Es sind nur Bruchstücke, die man aus dem Kraftwerk von der japanischen Regierung und dem Betreiber erfährt. Die Leute tragen demnach Atemschutzgeräte, teils haben sie schwere Sauerstofftanks auf dem Rücken.

Ihre Schutzanzüge und -hauben halten verstrahlte Partikel auf, aber nicht die Strahlung. So versuchen sie in den durch Brände und Explosionen zerstörten Anlagen mit keineswegs dafür gedachten Feuerwehrpumpen, große Mengen Meerwasser in die Reaktoren strömen zu lassen. Händeringend kämpfen sie darum, elektrische Anlagen und Pumpen am Laufen zu halten oder zum Laufen zu bringen.

Erinnerungen an Tschernobyl-„Liquidatoren“

Jedenfalls werden Erinnerungen an die Hunderttausenden „Liquidatoren“ wach, die die Sowjetführung nach dem Unglück von Tschernobyl für Aufräumarbeiten schickte. Je nach Quelle waren es zwischen 600.000 und eine Millionen Menschen, die teilweise die radioaktiv verseuchten Materialien mit bloßen Händen wegräumten. Die sowjetischen Behörden hätten Zinkschürzen und andere schwere Kleidung ausgegeben mit der Information, diese schützten vor der Radioaktivität.

Tausende Helfer sind inzwischen an der Strahlenkrankheit und Krebs gestorben. Zahlreiche Aufräumarbeiter sind heute arbeitsunfähig. Viele „Liquidatoren“ sollen nach Angaben des Verbands der Tschernobyl-Invaliden in Kiew ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt haben.

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