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Breites Spektrum in Opposition

Während in Libyen weiterhin heftige Kämpfe zwischen Regime und Aufständischen toben, bildet sich langsam auch eine politische Opposition gegen Machthaber Muammar al-Gaddafi heraus. In Bengasi gewinnt der Nationale libyschen Rat an Profil. Die Wortführer des Aufstandes spiegeln das breite Spektrum der Regimegegner wider. Gänzlich unterschiedlich sind die westlichen Einschätzungen, wie groß die Rolle der Islamisten ist.

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Profilierteste Figur des Nationalrats ist Mustafa Abdel Dschalil, ehemaliger Justizminister in Al-Gaddafis Regierung, der nach Ausbruch des Aufstands die Seite gewechselt hatte. Als „Vorsitzender“ des Gremiums bringt er sich ganz dezidiert für höhere Aufgaben in Stellung und gibt bereitwillig Interviews für westliche Medien. Allerdings wurde manche seiner Aussagen von anderen Oppositionsvertretern korrigiert. Wie viel Rückhalt er nach seinem Seitenwechsel hat, ist schwer abzuschätzen.

Religiöse im Aufwind?

In einer Reportage in der „New York Review of Books“ wird das Bild der heterogenen Zusammensetzung der Aufständischen in Bengasi gezeichnet. Junge städtische Anwälte würden neben Stammesführern und Islamisten sitzen. Sprecher der Oppositionsgruppe sei der Menschenrechtsanwalt Hafes Ghoga. Ein in den USA ausgebildeter Professor und dezidierter Säkularer kümmere sich um das Schulwesen in Bengasi. Zudem wird darauf hingewiesen, dass die meisten Mitglieder des Nationalrats noch immer anonym bleiben wollen.

Aus US-Sicht wird die Rolle der Islamisten eher bedrohlich geschildert: Moscheen, früher nur zu den Gebetszeiten geöffnet, seien nun rund um die Uhr zugänglich, Imame würden große Massen mobilisieren und zu einem „Dschihad“ gegen Al-Gaddafi aufrufen. Derzeit würden sich die Islamisten auch dem Ruf des oppositionellen Nationalrats nach einer vom Westen durchgesetzten Flugverbotszone und sogar US-Militärschlägen gegen das Regime anschließen.

Erinnerung an Massaker an Islamisten

Die „New York Review of Books“ bleibt allerdings eine Einschätzung schuldig, ob die Islamisten tatsächlich militant oder vergleichsweise gemäßigt wie die ägyptische Muslimbruderschaft sind. Das Magazin weist aber auch auf den Ursprung der Proteste hin: Nach einem Aufstand im Gefängnis Abu Salim in Tripolis 1996 richtete das Militär ein Massaker an. Über 1.000 Gefangene wurden getötet, fast alle waren vom Regime verhaftete Islamisten. Die ersten Proteste heuer im Februar waren entfacht worden, als der Opferanwalt der Angehörigen der Toten verhaftet wurde.

Erfolgreicher Kurswechsel Al-Gaddafis

Al-Gaddafi war während seiner gesamten Herrschaft mit harter Hand gegen islamistische Gruppierungen vorgegangen – und vor allem sein Einschreiten gegen die zuletzt wichtigste Gruppe, die Libyan Islamic Fighting Group (LIFG), entpuppte sich als erstaunlich erfolgreich. Die LIFG wurde Anfang der 90er Jahre von libyschen Extremisten in Afghanistan gegründet, die gegen die Sowjets kämpften und später in Libyen Al-Gaddafi den Kampf ansagten. Das Regime reagierte wie in den Jahrzehnten davor mit Militärschlägen und Massenverhaftungen, die Lage eskalierte weiter, und die LIFG schloss sich 2007 Al-Kaida an.

Nur zwei Jahre später sagte sich die Terrorgruppe wieder von Osama bin Laden los und legte die Waffen nieder: Anschläge auf Zivilisten seien kein probates Mittel, wurde verkündet. Inmitten dieses Gesinnungswandels hatte sich auch die Politik des Regimes radikal verändert: Al-Gaddafi setzte auf ein Programm des „Dialogs und der Reintegration“. Die „Deradikalisierung“ schien tatsächlich erfolgreich: In den vergangen Jahren wurden Hunderte Islamisten aus den Gefängnissen entlassen – die letzten ausgerechnet am Tag nach den ersten Protesten in Februar.

Islamistenchef wurde Anti-Terror-Experte

Eine außerordentliche Karriere inmitten dieser Entwicklung brachte Noman Benotman hinter sich. Der Libyer kämpfte in den 80er Jahre in Afghanistan gegen die Sowjetunion und später in der LIFG gegen Al-Gaddafi. Er brachte es bis an die Spitze der Terrororganisation. 1994 zog er in den Sudan und knüpfte Kontakte mit Al-Kaida. Auch in London, wo er seit 1995 lebt, war er zunächst in der Islamistenszene, ehe er dem Terror abschwor. Nach seinem Studium arbeitet er nun für die Quilliam Foundation, einen Anti-Terror-Think-Tank, und gilt als einer der profundesten Kenner Libyens.

Al-Gaddafis Mitrevolutionäre als neue Kraft?

In einem Dossier der Quilliam Foundation schlägt Benotman einen konkreten Plan für die Post-Al-Gaddafi-Ära vor: Als Kern der Übergangsregierung schlägt er Al-Gaddafi-Gegner aus dem „Bund freier Offiziere“ vor, also jener Gruppe, die gemeinsam mit dem langjährigen Machthaber 1969 die Monarchie gestürzt hatte. Unter ihnen gebe es genügend Männer, die sich schon lange von Al-Gaddafi abgewandt hätten, dennoch hätten sie noch genügend Einfluss vor allem im Militär und auch Ansehen in der Bevölkerung, da sie sich an den Repressionen des Regimes in den vergangene Jahrzehnten nicht beteiligt hätten.

Sie seien sowohl über den Verdacht erhaben, von ausländischen Kräften gesteuert zu sein, als auch darüber, Islamisten zu sein. Zudem würden sie aufgrund ihrer Herkunft praktisch alle Stämme repräsentieren. Von dieser Struktur ausgehend sollte gemeinsam mit Exilgruppen, übergelaufenen Politikern, Menschenrechtsaktivisten und auch religiösen Führern eine Übergangsregierung als Basis für eine demokratische Gesellschaft ermöglicht werden.

Islamisten „unter der Oberfläche“?

Das konservative US-Institut American Foreign Policy Council zeichnet in seinem „Weltalamanch des Islamismus“ ein unklares Bild. Man stimmt zu, dass die LIFG als Gruppe nicht mehr existiert, vermutet aber, dass zumindest ihre Werte „unter der Oberfläche“ noch weit verbreitet sind. Mehr als Spekulationen kann der Think-Tank aber nicht anbieten. Außerdem wird darauf verwiesen, dass auch die Muslimbruderschaft in Libyen existiert. Andere Experten verweisen zudem auf „Al-Kaida im Islamischen Maghreb“, die allerdings vor allem in den westlichen Nachbarländern Libyens operiert.

Koloniale Reflexe?

Daniel Levin von der Liechtenstein Foundation for State 
Governance erinnert in einem Beitrag für die in den Vereinigten Arabischen Emiraten erscheinende „Khaleej Times“, dass die Warnungen vor einem Machtvakuum eine gängige Reaktion auf Freiheitskämpfe sei: Kolonialmächte hätten im Laufe des 20. Jahrhunderts immer wieder dieses Argument verwendet, um Unabhängigkeitsbestrebungen in „ihren“ Ländern zu desavouieren.

Und die Angst vor Islamismus sei von Al-Gaddafi selbst geschürt worden, der gegenüber dem Westen drohte, nur er sei der Garant dafür, radikale Strömungen im Land in Schach zu halten. Der Westen sollte die Ereignisse als Chancen feiern und nicht als Gefahr betrachten, so Levin.

Auch der Exillibyer Mahmoud al-Nakou schreibt in einem „Guardian“-Kommentar, dass sowohl der Einfluss der Stämme als auch jener der Islamisten im Westen überschätzt werde. Natürlich habe der Islam als Religion großen Einfluss auf Kultur und Identität. Gewalt und Extremismus hätten aber kaum einen Nährboden. Als Vorbild gelte den Libyern eher die Türkei, islamische Werte würden dort Demokratie, Justiz und Freiheit eher bereichern als verhindern.

Christian Körber, ORF.at

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