„Ratten“ und „bezahlte Provokateuere“
Der libysche Machthaber Muammar al-Gaddafi scheint angesichts der sich ausbreitenden Proteste gegen ihn zu allem bereit. In einer offenbar kurzfristig angesetzten, vom staatlichen Fernsehen live übertragenen Rede schloss der 68-Jährige am Dienstag einen Rücktritt aus. Nicht nur das: Er drohte seinen Gegnern mit drastischen Szenarien und einem „Massaker“. Mehrfach betonte er: „Die Strafe ist der Tod.“
Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.
Vor der Rede hatte der TV-Sender al-Arabija kurz spekuliert, Al-Gaddafi würde seine Rede nützen, um aus dem Rückzugsgefecht seines Regimes heraus „Reformen“ anzukündigen. Doch nichts von dem: Al-Gaddafi nutzte seine rund 75 Minuten dauernde Ansprache, um mit dem gewohnten Pathos und zornig Regierungsgegner wechselweise als „Ratten“, „Kakerlaken“, „Drogenabhängige“ und vom Ausland „bezahlte Provokateure“ zu geißeln.
Als Kulisse hatte der 68-Jährige einen von US-Kampfflugzeugen 1986 zerstörten Palast in Tripolis genutzt. Libyen habe sich nie in der Geschichte fremden Mächten gebeugt, so Al-Gaddafi zornig. „Ich werde hier nicht aufgeben.“
Der „Krieger“ will „als Märtyrer sterben“
„Das italienische Königreich (die frühere Kolonialmacht, Anm.)" sei auf libyschem Boden besiegt worden, ebenso wie andere Supermächte. „Das ist mein Land, das Land meiner Vorfahren“, so Al-Gaddafi, der sich 1969 in dem Maghreb-Staat an die Macht geputscht hatte. Er sei „ein Krieger“, habe eine Revolution begonnen, „die Ehre über die Libyer“ gebracht habe. Er könne sein Land nicht verlassen, eher „werde ich am Ende als Märtyrer sterben“.
„Bis zum Ende aller Zeiten“
Seine Gegner warnte Al-Gaddafi mehrfach eindringlich. Sicherheitskräfte seien in alle Landesteile und Stammesgebiete abkommandiert worden, um diese „von den Kakerlaken zu säubern“. Jeder Libyer, der eine Waffe gegen Libyer in die Hand nehme, werde „exekutiert“. Er betonte, dass er Schießbefehl geben könnte, das aber noch nicht getan habe - unwahrscheinlich angesichts der großen Zahl an Todesopfern während der seit Tagen dauernden Protestwelle.
„Muammar al-Gaddafi ist der Anführer der Revolution, ich bin kein Präsident, der zurücktreten kann. (...) Das ist mein Land. Muammar ist kein Präsident, der seinen Posten abgibt, Muammar ist der Führer der Revolution bis zum Ende aller Zeiten“, so der libysche Machthaber.
Nachdem der TV-Sender al-Jazeera erst für den späten Dienstagabend eine Pressekonferenz von Al-Gaddafis zweitältestem Sohn, Saif al-Islam al Gaddafi, angekündigt hatte, meldete sich dann ein Regierungssprecher zu Wort und umriss dessen „Reformpläne“. Die beinhalteten etwa mehr Geld für Arbeitslose, hieß es bei al-Jazeera.
Internationale Gemeinschaft alarmiert
Der UNO-Sicherheitsrat verurteilte nach einer Dringlichkeitssitzung am Dienstagabend die Gewalt in Libyen. Die Verantwortlichen dafür müssten zur Rechenschaft gezogen werden, hieß es aus New York. „Wir sind sehr besorgt, verurteilen die Gewalt und bedauern den Tod hunderter Menschen“, hieß es in dem kurzen Text, der von allen 15 Nationen des mächtigsten UNO-Gremiums gebilligt wurde. Al-Gaddafi solle das Papier als „deutliches Signal“ verstehen. Eine förmliche Resolution fasste der Rat nicht.
„Gewalt inakzeptabel“
„Diese Gewalt ist inakzeptabel“, sagte US-Außenministerin Hillary Clinton. Die Außenbeauftragte der EU, Catherine Ashton, kündigte die Aussetzungen des EU-Rahmenabkommens mit Libyen an.
Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel bezeichnete die Rede Al-Gaddafis als „sehr erschreckend“. Damit habe er „quasi seinem eigenen Volk den Krieg erklärt“. Merkel, aber auch die USA, denken bereits neue Sanktionen gegen Tripolis an. Die Arabische Liga schloss laut einem Bericht von al-Arabija die libysche Delegation aus ihren Gremien aus. Am Dienstagabend telefonierte Al-Gaddafi mit dem italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi. Dabei habe er erklärt, in Libyen sei „alles in Ordnung“, teilte die amtliche libysche Nachrichtenagentur JANA mit.
Regime bröckelt zusehends
Tatsächlich bröckelt das Regime mittlerweile aber anscheinend deutlich: Am Dienstagabend soll sich der libysche Innenminister Abdel Fattah Junis al-Abeidi von Al-Gaddafi abgewandt und die Opposition ermutigt haben, an ihren „legitimen Forderungen“ festzuhalten, meldete al-Jazeera. Der Minister habe auch die Armee aufgefordert, sich auf die Seite der „Revolution vom 17. Februar zu stellen“.
Die Regierung meldete dagegen am späten Dienstagabend, in allen größeren Städten sei „die Ordnung wiederhergestellt“, Polizei und Armee hätten Position bezogen.
„Er ist nervös, er ist starrsinnig“
„Er ist nervös, er ist starrsinnig“, sagte Junis al-Abeidi gegenüber al-Arabija zu Al-Gaddafis Rede. „Er könnte Selbstmord begehen. Al-Gaddafi wird nie gehen. Er könnte Selbstmord begehen oder getötet werden. Ich habe ihm kein solches Ende gewünscht.“
Die Lage im Land war am Dienstagabend weiter völlig unklar. Es habe erneut Pro- und Kontrademonstrationen gegeben, schilderte die österreichische Botschafterin in Tripolis in einem Telefonat mit der ZIB2, Dorothea Auer. Möglichkeiten, mit Libyern zu sprechen, gebe es kaum. Die Straßen der Hauptstadt seien tagsüber weitgehend leer gewesen, die Situation „weiterhin sehr angespannt und vollkommen unabschätzbar“. Einwohner von Tripolis berichteten gegenüber al-Jazeera dagegen von Schüssen aus automatischen Waffen, die überall in der Stadt zu hören gewesen seien.
Bizarrer Kurzauftritt in der Nacht
Nachdem Al-Gaddafi in den letzten Tagen von der Bildfläche verschwunden war, hatte er sich bereits in der Nacht auf Dienstag kurz im Staats-TV gezeigt. Der erst als „große Rede“ und später als Interview angekündigte Auftritt stellte sich dann gegen 2.00 Uhr allerdings als eher bizarre Kurzeinspielung von rund eineinhalb Minuten heraus.
Er habe eigentlich zu den jungen Menschen auf den Grünen Platz in Tripolis fahren, zu ihnen sprechen und die Nacht mit ihnen verbringen wollen, sagte ein abwesend wirkender Al-Gaddafi. „Aber es hat zu regnen begonnen, wie Ihr seht. Was soll’s, das zeigt den Menschen wenigstens, dass ich noch immer in Tripolis bin. (...) Also glaubt nicht den (Rundfunk-)Sendungen dieser Hunde. Friede sei mit Euch!“
Luftangriffe auf Demonstranten
Bei den schweren Unruhen in dem Staat wurden laut Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) am Sonntag und Montag allein in der Hauptstadt Tripolis über 60 Menschen getötet. In ganz Libyen dürfte die Zahl der Toten bereits mehrere hundert betragen.
Am Montag hatte die Armee Berichten von al-Jazeera zufolge Luftangriffe gegen Demonstrationen in der Hauptstadt geflogen. Saif al-Islam al-Gaddafi, zweitältester Sohn des Machthabers mit guten Kontakten nach Österreich, dementierte Einsätze gegen bewohntes Gebiet.
Al-Gaddafi verliert Kontrolle
Die Nachrichtenagentur Reuters berichtete am Dienstag unter Berufung auf Armeeangehörige, die dem Regime bereits ihre Dienste verweigern, dass Teile Ostlibyens de facto nicht mehr unter Kontrolle von Al-Gaddafis Truppen stünden.
Die libysche Seite der Grenze zu Ägypten werde von bewaffneten Al-Gaddafi-Gegnern kontrolliert. Beim Versuch, den Aufstand niederzuschlagen, hätten regimetreue Truppenteile Panzer, Hubschrauber und Kampfflugzeuge eingesetzt, so Augenzeugen. Auch die Stadt Bengasi, die zweitgrößte Libyens, sei mittlerweile „befreit“, hieß es.
Links: