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Opferzahl dramatisch gestiegen

Die mit Spannung erwartete Rede von Ägyptens Präsident Hosni Mubarak in der Nacht auf Samstag hat nicht zur erhofften Beruhigung der Lage geführt. Ungeachtet der Reformversprechen und des am Samstag erfolgten Rücktritts der Regierung gingen neuerlich die Massen auf die Straßen und forderten den Rücktritt des seit 30 Jahren autoritär regierenden Staatschefs.

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Die ägyptische Führung hat am Samstag nach den schweren Unruhen in der Nacht eine neue Ausgangssperre verhängt. Sie gilt von 16.00 Uhr (15.00 MEZ) bis 08.00 Uhr (07.00 MEZ) am Sonntag, berichteten arabische TV-Sender unter Berufung auf das ägyptische Staatsfernsehen. Die ägyptische Zentralbank teilte zudem mit, dass Banken und die Börse in Kairo am Sonntag geschlossen bleiben. Das bisher zurückhaltend agierende Militär warnte nach Angaben des staatlichen TV-Senders vor einer Verletzung der Ausgangssperre. Jeder, der dagegen verstoße, befinde sich demnach in Gefahr.

Experten zufolge könnte das politische Schicksal des 82-jährigen Präsidenten am Ende von der Armee abhängen. Ägypten hat mit mehr als 460.000 Soldaten die zehntgrößte Streitmacht der Welt. Es waren Offiziere, die 1952 die Monarchie stürzten. Seitdem kamen alle vier Präsidenten aus ihren Reihen.

Dutzende Todesopfer

Die seit dem Freitagsgebet eskalierten Massenproteste dürften schon weit mehr Todesopfer gefordert haben als bisher angenommen. Nach einer Zählung des arabischen TV-Senders al-Jazeera sind es schon 95 Tote. Andere Quellen, die auf den Angaben von Ärzten, Krankenhäusern und Augenzeugen beruhen, sprachen von mindestens 74 Toten.

Nach Angaben eines Spitals in Kairo wurden allein dort im Lauf des Freitagabends 30 Tote eingeliefert. 20 Tote wurden zudem aus Alexandria gemeldet. In Sues kamen nach Angaben von Ärzten mindestens 13 Menschen bei den Zusammenstößen ums Leben.

Von offizieller Seite ist bisher von 38 Todesopfern die Rede. Wie Vertreter des Gesundheitsministeriums am Samstag in Kairo mitteilten, kamen jeweils zwölf Menschen in der Hauptstadt sowie in der Stadt Sues ums Leben. Rund 1.900 Menschen seien verletzt worden, unter ihnen 500 Polizisten.

Angriff auf Geheimdienstbüro

Am Samstag wurden bei gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften in der nordostägyptischen Stadt Rafah an der Grenze zum Gazastreifen drei Polizisten getötet. Nach Berichten von Augenzeugen bewarfen aufgebrachte Beduinen einen Posten des Geheimdiensts mit Granaten.

Demonstranten in Kairo

APA/EPA/Khaled El Fiqi

Auch am Samstag forderten Tausende Mubaraks Rücktritt.

Die Polizei habe als Reaktion auf den Angriff das Feuer auf die Demonstranten eröffnet, hieß es weiter. Die Gefechte ereigneten sich demnach unweit des Grenzpostens zum Gazastreifen, der vom ägyptischen Grenzschutz bewacht wird.

Auch in der Hafenstadt Ismailija kam es am Samstag nach Angaben von Augenzeugen zu schweren Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. Tausende Hafenarbeiter waren demnach in der Stadt am Sueskanal auf der Straße. Die Polizei setzte Gummigeschoße und Tränengas gegen sie ein. Von neuen Massenprotesten und Ausschreitungen mit der Polizei wird laut Reuters auch aus Alexandria berichtet. Unbestätigten Berichten zufolge setzte die Polizei auch scharfe Munition ein.

Hotels in Kairo angegriffen

Auch in der Hauptstadt Kairo versammelten sich bereits Samstagfrüh erneut Tausende Menschen auf den Straßen. Allein auf dem Tahrir-Platz im Zentrum der Hauptstadt forderten Tausende den Rücktritt von Mubarak. Unter den Demonstranten waren auch viele Aktivisten der ersten Stunde, die bereits am Dienstag an großen Protestkundgebungen teilgenommen hatten. Augenzeugen berichteten, auch Anhänger der oppositionellen Muslimbruderschaft seien unter den Demonstranten.

Neben anhaltenden Protesten kam es in der Nacht auf Samstag auch zu Plünderungen. In Kairo attackierten Randalierer mehrere Hotels und richteten Zerstörungen an, darunter im bekannten Ramses-Hotel. Nach Angaben von Anrainern stürmten Plünderer an der Ausfallstraße zu den Pyramiden von Giseh ein Hotel und verwüsteten mehrere nahe gelegene Geschäfte und ein Restaurant. In zwei Stadtvierteln seien aus Polizeiwachen Häftlinge befreit worden.

Parteizentrale abgebrannt

An vielen Straßenkreuzungen und vor Behördengebäuden waren in der Früh gepanzerte Fahrzeuge und Panzer der Armee postiert. Die Polizei, die von wütenden Demonstranten am Freitag teils überrannt worden war, zeigte dagegen nur an wenigen Stellen Präsenz. An den Straßen standen ausgebrannte und zerstörte Wracks von Polizeiwagen. Demonstranten fotografierten einander stolz vor den Wracks.

Am Vortag war es bei den seit Dienstag anhaltenden Protesten gegen die Staatsführung zum bisherigen Höhepunkt gekommen. Nach dem Freitagsgebet zogen landesweit Hunderttausende auf die Straßen und lieferten der Polizei schwere Straßenschlachten. Trotz nächtlicher Ausgangssperre gingen die Proteste auch Freitagabend weiter. Ziel der Demonstranten waren auch Regierungsgebäude und die Standorte der Nationaldemokratischen Partei (NDP), die Zentrale in Kairo wurde ein Raub der Flammen.

NDP-Zentrale in Kairo

APA/EPA/Hannibal Hanschke

Die NDP-Zentrale wurde in der Nacht auf Samstag ein Raub der Flammen.

Rücktrittsaufforderung von ElBaradei

Eine neuerliche Rücktrittsaufforderung kam auch von Mubaraks Gegenspieler Mohamed ElBaradei. Mubarak sei gescheitert, sagte der Friedensnobelpreisträger am Samstag in einem Telefoninterview mit al-Jazeera. Mubarak sollte sich zurückziehen und sich nicht erneut zur Wahl stellen. Der frühere Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) rief den Staatschef auf, eine Rahmenordnung für die Übergabe der Macht abzustecken.

Die Rede des Präsidenten vom Freitagabend, in der er die Bildung einer neuen Regierung angekündigt hatte, bezeichnete ElBaradei als Enttäuschung für die Ägypter.

Mubarak klammert sich an Macht

Mubarak nahm in der Nacht auf Samstag erstmals zu den Protesten öffentlich Stellung. Trotz der Ankündigung einer neuen Regierung und des Versprechens von Reformen stellte der seit 30 Jahren regierende Staatschef klar, das Land selber aus der Krise führen zu wollen. Kommentatoren auf al-Jazeera gingen am Samstagvormittag davon aus, dass die Demonstranten nicht zurückweichen würden, bevor Mubarak seinen Rücktritt erklärt.

Nach der Aufforderung der Behörden an die Mobilfunkanbieter, ihre Dienste in einigen Gebieten einzustellen, funktionierten am Samstag die Verbindungen zweier ägyptischer Anbieter wieder teilweise. Dagegen funktionierte das Internet zumindest in Kairo offenbar noch nicht wieder.

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