Über 100 Dörfer werden geflutet
Die internationalen Proteste gegen das riesige Staudammprojekt Ilisu in Südostanatolien laufen seit Jahren. Genützt haben sie nicht. Am Sonntag übergibt der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan die Häuser eines neu errichteten Dorfes. Dorthin sollen die Bewohner der Ortschaft Ilisu, die für den Staudamm am Tigris Namensgeber war und die im Stausee versinken wird, ziehen.
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Damit beginnt eine großangelegte Umsiedelungsaktion Zehntausender Menschen, die einer der Kritikpunkte an dem Staudamm ist. Auch für die Einwohner anderer Dörfer in der Umgebung werden in den kommenden Monaten neue Häuser errichtet. Insgesamt werden mehr als hundert Dörfer vom Stausee überflutet.
Kanalisation, aber keine Ställe
Haben die Menschen des Dorfes Ilisu bisher in Hütten aus Lehm gemeinsam mit ihrem Vieh gewohnt, stellt ihnen die Regierung nun größere Häuser mit Kanalisation und fließendem Wasser zur Verfügung. Ausreichend Ställe für die Tiere und neue Anbauflächen fehlen offenbar.
Ilisu-Staudamm
Der Ilisu-Damm (geplante Höhe: 135 Meter) ist Teil des Südostanatolien-Projekts (Güneydogu Anadolu Projesi, GAP) mit einem über 300 Quadratkilometer großen Stausee und einem Wasserkraftwerk mit einer Leistung von 1.200 Megawatt (MW). Der Damm soll 2013 fertiggestellt werden. Das Projekt kostet rund 1,2 Milliarden Euro.
Mahmut Dündar, Regionalchef des türkischen Wasserbauamts DSI, gibt sich im Deutschlandradio jedenfalls stolz: „Die Einwohner bekommen diese Häuser zu wirklich günstigen Konditionen. Die ersten fünf Jahre müssen sie überhaupt nichts bezahlen für diese schönen, modernen Häuser, danach zahlen sie die 70.000 Lira (Anm. rund 35.000 Euro) über 20 Jahre in monatlichen Raten von je 291 Lira ab.“ Diese Monatsraten entsprechen etwa der Hälfte des türkischen Mindestlohns, der von den großteils von der Landwirtschaft lebenden Menschen aber kaum verdient wird.
Streit mit Nachbarn
Die Türkei sieht bei dem Südostanatolien-Projekt (GAP) wichtige Entwicklungsimpulse für die wirtschaftlich schwach erschlossene Region. Gerade für die Landwirtschaft sollen etwa neue Bewässerungsmöglichkeiten für die Landwirtschaft entstehen. Gleichzeitig soll das Kraftwerk drei Prozent zur Energieproduktion der Türkei beitragen.
Kritiker befürchten aber Umweltschäden und eine Zerstörung von Ökosystemen. Die Wasserqualität werde sich demnach verschlechtern und den landwirtschaftlich genutzten Böden drohe Versalzung. Das Wasser ruft auch die Kritik der Nachbarländer auf den Plan. Die irakische Regierung sieht durch den Bau des Staudamms Schäden für den Irak. Die Türkei habe sich mit Syrien über die Verteilung des Tigris-Wassers geeinigt. Die Interessen des Irak seien dabei aber übersehen worden.
Angriffsfläche für internationale Kritik bot auch das Verschwinden der Stadt Hasankeyf, die mit den umliegenden, hauptsächlich von Kurden bewohnten Siedlungen im Stausee versinken wird. Die Anfänge dieser historischen Stadtfestung an der Grenze zu Syrien gehen auf die ersten Jahrhunderte nach Christus zurück.
Österreich zog sich zurück
Von dem türkischen Popstar Tarkan bis zu den Grünen in Österreich haben sich zahlreiche Initiativen gegen die Fortsetzung des Projekts gewehrt. Die Weltbank hatte die Finanzierung des Projekts wegen negativer Auswirkungen auf Umwelt und Gesellschaft schon 1997 abgelehnt.
Österreich war neben Deutschland und der Schweiz beteiligt. Allerdings lehnten die drei Länder im Juli 2009 zugesagte Kreditbürgschaften für das Ilisu-Projekt ab und stiegen aus. Begründet wurde das damit, dass die Türkei gegen zahlreiche Auflagen zur sozialverträglichen Umsiedelung der Betroffenen sowie zum Schutz von Umwelt und Kulturgütern verstoßen habe.
Andritz bleibt
Die Türkei beharrte auf GAP, das insgesamt über 20 Staudämme und bisher 19 Wasserkraftwerke entlang der Flüsse Euphrat und Tigris umfasst, und setzte den Bau nach einem vorläufigen Stopp fort - zum Großteil mit türkischen Firmen und der finanziellen Unterstützung türkischer Banken. Der französische Industriekonzern Alstom sowie die STRABAG-Tochter Züblin zogen sich aus dem Auftrag zurück. Einzig der börsennotierte österreichische Anlagenbauer Andritz bleibt weiter involviert. Es wird die elektromechanische Ausrüstung im Wert von rund 340 Millionen Euro liefern.
Aufgrund dieser Dimensionen wäre es für Andritz „nicht verständlich, wenn wir uns nicht beteiligen würden“, argumentierte Andritz-Chef Wolfgang Leitner im Sommer die Beteiligung seines Unternehmens. Zur Umweltverträglichkeit des Staudamms äußerte er sich nicht - dazu gebe es türkische Prüfungen.
Auch die Aufregung um Hasankeyf kann er nicht nachvollziehen. Deren historisches Erbe sei erst mit der Planung des Staudamms in die internationale Aufmerksamkeit geraten. Davor sei der Ort „weder als Wiege der Menschheit noch als archäologisch besonders wertvoll“ eingestuft worden, die Steine seien als Baumaterialreserve genutzt worden.
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