Vanessa Redgrave: „Solche Erfahrungen prägen ein Leben“
Als Kind erlebte Redgrave den Zweiten Weltkrieg in London mit, das Engagement ihrer Eltern für Vertriebene, und wie es ist, aus dem eigenen Zuhause fort zu müssen. Produziert hat den Film „Sea Sorrow“ ihr Sohn Carlo Nero, Redgraves Schauspielkollegen Emma Thompson und Ralph Fiennes haben mitgewirkt.
ORF.at: Was war der Anlass, so spät in Ihrer Karriere noch mit Regie zu beginnen?
Vanessa Redgrave: Ich bin entsetzt angesichts der schieren Zahlen jener, deren Leben komplett ausgelöscht werden, in Kriegen und auf der Flucht, in Wüsten, im Mittelmeer. Natürlich habe ich ununterbrochen mit Geld zu helfen versucht, und Benefizaufführungen organisiert. Aber dann hörten wir vom Ertrinken dieses kleinen Buben, Alan Kurdi, von seiner Schwester und seiner Mutter, in einem kleinen Boot bei der Überquerung dieser wenigen Kilometer zwischen Türkei und Griechenland. Die Kurdi-Familie war aus Kobane entkommen, einer Stadt, die schon zweimal belagert war und jetzt übrigens wieder belagert ist. Es ist unerträglich und inakzeptabel, dass wir Flüchtlingen keine sichere und legale Überfahrt erlauben. Und da hab ich mich entschlossen, diesen Film zu drehen.
ORF.at: Das Bild, das in den britischen Medien von Flüchtlingen gezeichnet wird, ist berüchtigt grausam. Soll dieser Film dem etwas entgegensetzen?
Redgrave: Unbedingt. Am negativen Image von Flüchtlingen haben unsere Medien in Großbritannien einen schändlichen Anteil, vor allem rund um das Brexit-Referendum wurde es wirklich hässlich. Als letzten Herbst endlich eine kleine Gruppe minderjähriger unbegleiteter Flüchtlingen sicher einreisen durfte, haben die in den Augen mancher Leute älter als 18 ausgesehen, und die Medien haben sich draufgestürzt, in dieser abstoßenden faschistischen Rhetorik. Dabei ist es ganz logisch, dass gerade die jungen Burschen flüchten: Die Milizen, ob der IS oder andere, zwingen sie, im bewaffneten Kampf mitzumachen. Wer nicht selbst töten will, kann nur fliehen.

Viennale
Redgrave gewann 1978 den Oscar als beste Nebendarstellerin für Fred Zinnemanns „Julia“
ORF.at: Sie haben das Referendum erwähnt. Bereitet Ihnen der Brexit Sorgen?
Redgrave: Ich will jetzt keine Reden halten, aber die Auswirkungen des Brexit werden sein, als würde ein Tsunami über die Menschen in Großbritannien hereinbrechen. Und die meisten haben keine Ahnung, was alles betroffen sein wird, weil niemand es ihnen gesagt hat, sie wurden aktiv belogen. Schlimm für unsere Sache ist zusätzlich, dass der Fokus von den Flüchtlingen weg ist, aber das Leiden und Sterben geht immer weiter. Und wenn das Leben in Großbritannien für alle schlimmer wird, wird es immer schwieriger, dass die Leute sich noch anständig irgendwem anderen gegenüber verhalten.
ORF.at: Im Film sprechen Sie davon, wie Sie als Kind das Bedürfnis hatten, anderen zu helfen, und dann begegnen Sie diesem Mädchen, das dasselbe sagt. Handelt Ihr Film nicht auch genau von diesem Bedürfnis, das oft erst von der Politik verunmöglicht wird?
Redgrave: Sie haben recht, sehr viel hat mit Kindern zu tun. Ich habe eine große Veranstaltung für die UNICEF in Deutschland organisiert, mit Leuten wie Bono, Kris Kristofferson, deutschen Historikern, früheren Partisanen, Holocaust-Überlebenden. Wir wollten auch Kinder dabei haben, also gingen wir in Schulen - vor allem die Kinder vor dem Schulalter, in dem sie in Tests und Schularbeiten versinken, sind noch wirklich hilfsbereit und neugierig auf andere.
Bei der Arbeit an diesem Film ist mir das wieder aufgefallen. Als ich vier Jahre alt war, bin ich in einem Theaterstück aufgetreten, das von einem anderen Flüchtlingskind in unserem Haus organisiert war, seine Eltern waren auch evakuiert worden, und wir haben dieses Stück aufgeführt und haben einen halben Penny Eintritt verlangt, das schien uns viel Geld, und wir haben das Geld der Handelsmarine geschickt, weil uns erklärt worden war, dass wir im Krieg nichts zu essen kriegen, wenn wir nicht mithelfen, dass die Boote über den Atlantik kommen. Weil wir Kinder von Schauspielern waren, war das eben das, was wir tun konnten.

Viennale
Redgrave wurde 1937 in London geboren
ORF.at: Dieses Projekt ist produziert von Ihrem Sohn, Ihr Mann Franco Nero unterstützt ein Flüchtlingsprojekt in Italien, Ihre Tochter Joely Richardson kommt im Film vor. Wie sehr ist das ein Familienthema?
Redgrave: Wir sind immer eng beisammen. Ich meine, ich war oft in meinem Leben getrennt von meinem Mann, aber ich habe mein Leben lang Menschen gekannt, die anderen geholfen haben. Ich will nichts zu rosig malen, aber meine Eltern kannten Künstler, die im Zweiten Weltkrieg geflohen waren nach England, und wir kannten deren Geschichten. Meine Eltern und andere berühmte Schauspieler wurden gebeten, Geld aufzutreiben, um jüdischen Flüchtlingen in London das Überleben zu ermöglichen, sie schrieben Briefe ans Innenministerium, um Visa zu erbitten, unter anderem für Oskar Kokoschka - Sie sind aus Österreich, nicht wahr? -, ja, so war das.
ORF.at: Sie erzählen im Film von Ihren eigenen Erinnerungen an Krieg und Flucht aus dem bombardierten London und ziehen Parallelen zu den Erfahrungen von Flüchtlingskindern heute.
Redgrave: Ja, mein Sohn und Produzent Carlo hat mich dringend gebeten, persönlich zu werden, und meine eigene Geschichte zu erzählen. Ich war unsicher, weil ich ja keinen Film über mich machen wollte. Aber er hat mir dargelegt, dass das den Menschen helfen kann zu verstehen, was es bedeutet, Flüchtling zu sein, wenn sie von meiner eigenen Erfahrung hören. Und damit hat er mich überzeugt.
ORF.at: Sie stehen in Ihrem Kampf für die Rechte von Flüchtlingen immer wieder vor gewaltigen Hindernissen. Was ist es, das Sie trotz allem antreibt?
Redgrave: Als ich viereinhalb war, haben wir uns in Londoner Kellern versteckt, bevor wir von den fallenden Bomben evakuiert wurden und aus der Stadt flüchten konnten in den Norden Englands. So viele andere Kinder auf der Welt hatten es damals viel schlimmer, in Frankreich, in Spanien, in Deutschland, mein Gott, aber auch wir haben uns in Luftschutzkellern verstecken müssen. Solche Erfahrungen prägen ein ganzes Leben.
Das Gespräch führte Magdalena Miedl, für ORF.at