Szene aus "Sea Sorrow"

Viennale

Vom Verlorengehen und Gerettetwerden

Mit 79 Jahren hat die britische Schauspielerin Vanessa Redgrave ihr Regiedebüt geschaffen: „Sea Sorrow“ handelt vom Leid von Flüchtlingen, und Redgrave erzählt auch von ihren eigenen Kindheitserinnerungen, wie sie aus dem kriegsgebeutelten London in Sicherheit gebracht wurde. Es ist ein tiefempfundenes Stück Kino – und bei der Viennale ist Redgrave persönlich zu Gast.

Sie ist Oscar-Preisträgerin, Mnschenrechtsaktivistin und Shakespeare-Interpretin von zwingender Bühnenpräsenz. Dieses ganze Gewicht ihrer Prominenz wirft Redgrave in die Waagschale für ihr dringendstes Anliegen: Ihr später Erstlingsfilm „Sea Sorrow“ ist ein leidenschaftlicher Aufruf zu Vernunft und verantwortungsvoller Politik, zu einem Ende der Misshandlung von Flüchtlingen und zu einem aufrichtigen und menschlichen Umgang mit jenen, die nach Europa und Großbritannien kommen, um hier ein würdiges Überleben zu finden.

„Sea Sorrow“ heißt der Film, den Redgrave gedreht hat, nach dem Eindruck der Flüchtlingskrise 2015 und angesichts der immer brutaleren Maßnahmen gegenüber Ankommenden und der gesetzlichen Zusagen, die willkürlich nicht befolgt werden, wie vor allem die Bemühungen von Redgraves politischem Verbündeten Lord Dubs verdeutlichen. Alfred Dubs war Ende der 1930er Jahre mit einem Kindertransport aus Prag nach Großbritannien gekommen, und die persönliche Erfahrung verleiht seinem und Redgraves Engagement zusätzlich Glaubwürdigkeit.

Die gestrigen und die heutigen Vertriebenen

„Sea Sorrow“ beginnt als impressionistisches Stück mit Herbstwäldern und Erinnerungsfetzen, um dann sehr bald zur Sache zu kommen: Es geht um das ganz konkrete Erleben, die ganz konkrete Misshandlung durch Bedürfnismissachtung von Menschen, die auf der Flucht vor Krieg, Dürre und Hunger in Lagern in Griechenland, Süditalien oder im französischen Calais gelandet sind, und die durch politische Entscheidungen von Asylwerbern zu einer undefinierbaren Bedrohung geworden sind.

Szene aus "Sea Sorrow"

Viennale

„Sea Sorrow“ zeigt das Leid jener, die in Europa auf Sicherheit hofften - damals wie heute

Ein Abend mit Vanessa Redgrave

Am Donnerstag, 26. Oktober, spricht Vanessa Redgrave in der Viennale-Zentrale im MuseumsQuartier über ihren Film und die aktuelle Flüchtlingssituation mit Vertretern von Amnesty International und Caritas. Moderiert wird der Talk von Renata Schmidtkunz. Mehr dazu in Diskutieren mit Vanessa Redgrave & Co.

Redgrave geht in die Lager, spricht mit jenen, die zu helfen versuchen, und mit jenen, die zu scheitern drohen. Und sie erinnert sich an ihre eigene Kindheit in einem kriegsgebeutelten London, in dem ihre Eltern - kosmopolitische Künstler - ebenfalls versucht hatten zu helfen. Und wie sie noch lange geplagt und traumatisiert war von den Bombennächten, und die Erinnerungen nicht abschütteln kann, bis heute: „So eine Erinnerung prägt ein ganzes Leben“, sagt sie im Interview mit ORF.at.

Familiensache

Während des Zweiten Weltkriegs halfen ihre Eltern zusammen, um Flüchtlinge ins Land zu holen, und auch heute ist es der ganzen Familie von Redgrave und ihrem Ehemann und Kollegen Franco Nero ein Anliegen, jenen beizustehen, die ihr Zuhause verloren haben und auf der Flucht sind: Nero unterstützt ein Flüchtlingsprojekt in Italien, Redgraves Tochter Joely Richardson und ihre Enkelin Daisy Bevan sind in „Sea Sorrow“ zu sehen, Sohn Carlo Nero hat den Film produziert.

Mit Carlo gemeinsam hat Redgrave auch die Produktionsfirma „Dissent Projects“ (etwa: Widerspruchsprojekte) gegründet, die sich sozialkritischen Dokumentarfilmen verschrieben hat. Mit „Sea Sorrow“ ist Redgrave ein empathischer Film gelungen, dessen Leidenschaft und Ernsthaftigkeit keine Sekunde anzuzweifeln sind. Was „Sea Sorrow“ allerdings auch ist: Ein Debüt, dem bei aller politischer Dringlichkeit die dramaturgische Schlüssigkeit fehlt.

Filmhinweis

„Sea Sorrow“ ist auf der Viennale am 26. Oktober um 18.00 Uhr im Gartenbaukino zu sehen. Österreichweiter Kinostart ist für 2018 geplant.

Shakespeare bringt alle zusammen

Der rote Faden könnte William Shakespeare sein, der Redgrave mit ihren Schauspielkollegen Emma Thompson und Ralph Fiennes verbindet, die an dem Film mitgewirkt haben. Gegen Ende des Films spielen Fiennes und Redgrave-Enkelin Daisy Bevan jene Szene aus Shakespeares „Der Sturm“, aus der der Titel „Sea Sorrow“ stammt: Prospero schildert da seiner Tochter Miranda, wie sie vertrieben wurden und ein Boot nehmen mussten, „ein faul Geripp’ von Boot, ganz abgetakelt / Kein Mast noch Segel, selbst die Ratten hatten’s / Aus Furcht geräumt: da laden sie uns aus / Zu weinen ins Gebrüll der See“. Wenigstens Prospero und Miranda werden gerettet.

Magdalena Miedl, für ORF.at

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