Kritiker befürchten Ein-Mann-Herrschaft
Im April vergangenen Jahres hatten die Türkinnen und Türken mit einer knappen Mehrheit in einem Referendum für das von Staatschef Recep Tayyip Erdogan angestrebte Präsidialsystem gestimmt. Nach der Abstimmung begann schrittweise die Umstellung des Systems. Mit den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 24. Juni ist diese nun abgeschlossen.
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Laut Erdogans Aussage waren die Verfassungsänderungen notwendig, um die Wirtschaft anzuschieben und die Sicherheit des Landes zu gewährleisten. Mit dem neuen Präsidialsystem werde es Erdogan zufolge schnellere und stärkere Ergebnisse geben.
Kritiker werfen Erdogan indes vor, das Land mit einer Bevölkerung von 81 Millionen in einem autoritären Staat zu verwandeln, von westlichen Werten wie Meinungsfreiheit und Demokratie abzurücken sowie die säkularen Strukturen zu zerstören, die der Gründer der modernen Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, aufgebaut hat. Verfassungsexperten der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission) im Europarat warnten vor einem „gefährlichen Rückschritt in der verfassungsmäßigen demokratischen Tradition der Türkei“.
Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft
Mit den nun geltenden Verfassungsänderungen übernimmt Erdogan nun auch die Leitung der Regierung, da das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft wird. Zudem kann das Staatsoberhaupt mit Dekreten teilweise das Parlament umgehen. Dank der Verfassungsänderung hat der Präsident in der Türkei nun auch mehr Einfluss auf die Justiz.
Im Rat der Richter und Staatsanwälte kann er vier der 13 Mitglieder bestimmen, das Parlament sieben weitere. Feste Mitglieder bleiben der Justizminister und sein Staatssekretär, die der Präsident ebenfalls auswählt. Das Gremium ist unter anderem für die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten zuständig. Der Rat wurde bereits im Mai 2017 neu besetzt. Im alten System hatten die Juristen selbst die Mehrheit des zuvor 22-köpfigen Gremiums bestimmt. Abgeschafft wurden indes die Militärgerichte.
Das Staatsoberhaupt in der Türkei kann nun auch einer Partei angehören. Erdogan trat im Mai 2017 der von ihm mitgegründeten AKP bei. Im selben Monat ließ er sich wieder zum Parteivorsitzenden wählen. Abgeschafft wurde indes das Amt des Ministerpräsidenten, da mit der nun geltenden Verfassungsänderung der Präsident nicht nur Staats-, sondern auch Regierungschef ist.
Freie Hand bei Kabinettserstellung
Er wird nicht mehr vom Parlamentspräsidenten, sondern vom Vizepräsidenten vertreten. Für die Ernennung und Absetzung von Vizepräsidenten und Minister sowie aller hochrangigen Staatsbeamten hat Erdogan freie Hand. Das Parlament hat kein Mitspracherecht. Mitglieder des Kabinetts dürfen nicht Abgeordnete sein. Wer für die Präsidentschaft kandidiert, darf sich nicht zugleich um ein Abgeordnetenmandat bewerben.
Keine Zustimmung durch das Parlament benötigt Erdogan für Dekrete. Diese werden unwirksam, falls das Parlament zum jeweiligen Bereich ein Gesetz verabschiedet. Präsidiale Dekrete dürfen Verfassungsrechte nicht einschränken und gesetzlich bereits bestimmte Regelungen nicht betreffen. Gesetze darf - bis auf den Haushaltsentwurf - nur noch das Parlament einbringen.
Hintertür bei Amtszeiten
Die Amtszeiten des türkischen Präsidenten bleiben zwar weiterhin auf zwei beschränkt. Die Regierungspartei AKP hat aber eine Hintertür eingebaut: Sollte das Parlament in der zweiten Amtsperiode des Präsidenten eine Neuwahl beschließen, kann der Präsident noch einmal kandidieren.
Die Zählung der Amtszeiten beginnt unter dem neuen Präsidialsystem neu. Erdogan ist also nun in seiner ersten Amtsperiode. Mit der Hintertür (und bei entsprechenden Wahlerfolgen) könnte er theoretisch bis 2033 an der Macht bleiben.
Gegen den Präsidenten kann nicht nur wie bisher wegen Hochverrats, sondern wegen aller Straftaten ermittelt werden. Allerdings ist eine Zweidrittelmehrheit aller Abgeordneten im Parlament notwendig, um eine entsprechende Untersuchung an die Justiz zu überweisen.
600 Abgeordnete im Parlament
Neuwahlen können sowohl das Parlament als auch der Präsident auslösen, im Parlament ist dafür eine Dreifünftelmehrheit notwendig. In beiden Fällen werden sowohl das Parlament als auch der Präsident zum gleichen Zeitpunkt neu gewählt - unabhängig davon, welche der beiden Seiten die Neuwahl veranlasst hat.
Eine weitere Neuerung betrifft die Abgeordnetenzahl im Parlament, die von 550 auf 600 erhöht wurde. Parlamentarische Anfragen gibt es zudem nur noch schriftlich an die Vizepräsidenten und Minister.
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