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Gewerkschaft sieht Missbrauch mit System

Peter Schleinbach ist Bundessekretär für Branchen- und Kollektivvertragspolitik der Produktionsgewerkschaft Pro-Ge. Im Streit um die Bezahlung von Erntehelfern geht er mit den Landwirten scharf ins Gericht. Betrug sei die Regel - und in der offiziellen Debatte höre er nichts als Schutzbehauptungen.

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ORF.at: Landwirte sagen, die Berichterstattung über Missstände in Sachen Erntearbeiter seien „Fake News“. Sind sie das?

Peter Schleinbach: Natürlich gibt es die Missstände. Wenn alle Erntehelfer so glücklich gewesen wären, wie das so oft behauptet wird, dann hätten sie keinen Grund, nicht wiederzukommen. Wenn ich ordentlich behandelt werde, fantastisch bezahlt werde und wunderbare Arbeitsbedingungen vorfinde, wenn ohnehin alles eitel Wonne ist, dann frage ich mich: Warum genau sollten Leute dann nicht in diese paradiesischen Zustände zurückkehren wollen?

ORF.at: Wenn man von der Bezahlung absieht - welche Missstände gibt es?

Schleinbach: Ich würde gar nicht von der Bezahlung absehen. Die meisten Menschen gehen ja nicht arbeiten, weil es so schön ist, auf dem Feld tätig zu sein, sondern weil sie Geld brauchen, von dem sie leben können. Wegen der frischen Luft fährt niemand Hunderte, wenn nicht Tausende Kilometer durch die Gegend. Es geht darum: Wird die Anzahl der Arbeitsstunden korrekt abgerechnet? Werden die Zuschläge bezahlt?

ORF.at: Und passiert das?

Schleinbach: Nein. Wir merken in vielen Fällen, und da gibt es jede Menge dokumentierter Beispiele, dass nicht einmal die ohnehin schon bescheidenen Kollektivvertragslöhne bezahlt werden. Wir merken, dass die Arbeitszeiten zum Teil ausufernd lange sind, dass Ruhezeiten sehr kurz sind, dass die Quartiere, die die Leute vorfinden, nicht in Ordnung sind.

Wir merken, dass Anmeldungen für Teilzeit gemacht werden, die Leute tatsächlich aber 80, 90 Stunden in der Woche arbeiten ohne Wenn und Aber. Also zwischen dem idyllischen Bild, in der Landwirtschaft tätig zu sein, und der Arbeitsrealität, die die Leute vorfinden, dazwischen gibt es jede Menge, was nicht in Ordnung ist. Jede Menge.

Betrug mit System

Peter Schleinbach, Bundessekretär für Branchen- und Kollektivvertragspolitik der Produktionsgewerkschaft Pro-Ge, im Gespräch mit ORF.at. Er sagt, der Betrug habe System.

Wie viele betrifft das?

Schleinbach: Wir glauben, dass ein ganz wesentlicher Teil der Erntehelferinnen und Erntehelfer nicht ordnungsgemäß entlohnt wird. Wir reden da nicht von ein paar Einzelfällen oder von ein paar schwarzen Schafen, sondern das ist eine Systematik, dass die zu viel arbeiten und zu wenig bezahlt bekommen. Das ist systematisch, das ist strukturell so, das ist keine Ausnahme, sondern eher die Regel.

Das ist auch der Grund, warum Leute sagen: „Alles, nur nicht mehr diese Arbeit - und nur nicht mehr dorthin.“ Die sind in ihrer Heimat vernetzt, die erzählen sich gegenseitig, wie die Arbeit in welchem Bundesland oder auf welchem Bauernhof ist. Offensichtlich ist das, was die Leute erleben, abschreckend genug, dass Leute sagen: „Dort fahre ich nicht hin.“

Also liegt es nicht nur, wie die Landwirtschaftskammer sagt, am niedrigen kollektivvertraglichen Lohn, der den Lohnnebenkosten geschuldet sei?

Schleinbach: Nein. Wenn ich Menschen zu einem bestimmten Lohn beschäftigen möchte und merke, sie kommen nicht, dann muss ich denen mehr bezahlen. Im Kollektivvertrag steht ein Mindestlohn, und wenn ich offensichtlich ein Problem habe, um das Geld jemanden zu bekommen, dann muss ich mehr bezahlen, und die Leute werden kommen.

Und der Mythos mit den Lohnnebenkosten ist eine Schutzbehauptung. Das hat mit der Realität nicht viel zu tun. Und die Lohnnebenkosten soll man in diesem Zusammenhang nicht überbewerten. Die Lohnnebenkosten beeinflussen ja nicht mein Brutto als Arbeitnehmer. Die sind eine kalkulatorische Frage bei den Arbeitgebern. Mein Nettoeinkommen wird davon beeinflusst, was ich selbst als Angestellter an Abgaben bezahle. Das fällt in der Größenordnung solcher Löhne nicht sehr ins Gewicht.

ORF.at: Dennoch sagen Landwirte, der finanzielle Aufwand sei für sie alles in allem pro Stunde für einen Erntehelfer viel höher als für Landwirte in Deutschland - und trotzdem bleibt den Erntehelfern unterm Strich viel weniger übrig als in Deutschland. Stimmt das nicht?

Schleinbach: In Deutschland gibt es die Regelung, dass jemand, der in seinem „normalen Beruf“ zu Hause sozialversicherungspflichtig ist, dann als Saisonarbeiter in Deutschland nicht in die Sozialversicherung einzahlen muss. Sie nennen das „Oktoberfest-Regelung“. Wenn ein Lehrer für zwei Wochen nach Deutschland kommt, um sich beim Oktoberfest etwas dazuzuverdienen, dann zahlt sich der administrative Aufwand für die Sozialversicherung nicht aus.

Tatsächlich sind aber in Deutschland die Erntehelfer, die es dort gibt, nicht nur zwei Wochen unterwegs. Es wird getrickst, wenn man sie in die „Oktoberfest-Regelung“ hineinnimmt. Wenn man also Deutschland und Österreich vergleicht, muss man aufpassen, nicht Birnen mit Äpfel zu vergleichen. Denn die Befreiung von der Sozialversicherung ist ja keine allgemeingültige Regelung. Auch wenn manche Landwirte in Deutschland das behaupten und sich hinter dieser Regelung verstecken. Diese Regelung ist offiziell auf 50, in Spezialfällen auf 70 Tage beschränkt.

ORF.at: Und die Leute bleiben in Wahrheit länger?

Schleinbach: Erstens bleiben sie länger. Und zweitens sind die durchschnittlichen Erntehelfer zu Hause nicht in fixen Berufen tätig und ohnehin sozialversichert. Die kommen oft selbst aus einem landwirtschaftlichen Umfeld und leben vom Herumfahren. Und genau dafür gibt es in Deutschland keine Ausnahme von der Sozialversicherung. Das ist einfach nicht richtig.

ORF.at: Ist das vonseiten der Landwirte Not oder Habgier?

Schleinbach: Das ist immer eine Mischung aus verschiedenen Dingen. Das fängt bei der Frage an: Welchen Wert haben Lebensmittel an sich? Lebensmittel sollen und dürfen offenbar nichts kosten. Es ist ja schon der Normalfall, dass man die Hälfte der Lebensmittel wegschmeißt. Wenn das Krauthappl oder die Gurke so billig ist, fällt das ja nicht ins Gewicht. Dann schmeißt man es eben weg.

Aber nur weil viele Menschen glauben, dass Lebensmittel nichts kosten dürfen, ist das in keinster Weise auch nur in irgendeiner Form eine zulässige Begründung dafür, dass man Menschen und Natur in einer unangemessenen Weise ausbeutet. Da gibt es offensichtlich ein systemisches Problem.

Und wenn es nicht möglich ist, dass man unter menschenwürdigen Bedingungen Lebensmittel produziert oder in diesem Fall erntet, dann muss man das System verändern - aber nicht sagen: „Da kann man leider nichts machen, das System ist grauslich, dann zahlen wir den Leuten halt nur drei Stunden oder drei Euro in der Stunde.“ Da ist das System falsch. Da muss man am System arbeiten.

Haben die Erntehelfer eine Chance, dass sich etwas ändert, wenn sie sich wehren?

Schleinbach: Sie haben eine Chance. Aber es ist ein mühseliger Prozess. Dort, wo Menschen beschließen, sich zu wehren, und merken, dass ihre Lebensbedingungen jemanden interessieren, dort gelingt das auch, dass man mit den Menschen gemeinsam daran arbeitet, ihre Interessen durchzusetzen. Das geht. Das ist mühselig und mit Rückschlägen verbunden, aber es geht.

ORF.at: Kommen solche Fälle vor Gericht

Schleinbach: Es kommt zu Prozessen, zu Interventionen und vielem anderen mehr. Was auffällt: In anderen Bereichen sind Firmen oft einsichtig, wenn etwas nicht in Ordnung ist. In Bezug auf Erntehelfer ist das Unrechtsbewusstsein jedoch unterdurchschnittlich. Aber es gibt mit Verfahren, der Androhung von Verfahren und Klagen Möglichkeiten, auch die Uneinsichtigen dazu zu bringen, zu bezahlen, was sie müssen. Das geht.

Es sollten viel mehr Menschen das aktiv einfordern, was ihnen zusteht. Aber das ist leichter gesagt als getan. Oft sind die Menschen von ihren Arbeitgebern abhängig. Abhängigkeit wird eben oft ausgenutzt. Manchmal schamlos. 5,80 Euro Nettolohn pro Stunde laut Kollektivvertrag sind relativ wenig. Aber nicht einmal das wird bezahlt.

ORF.at: Und was wäre eine faire Entlohnung für jemanden, der hart auf dem Feld arbeitet?

Schleinbach: Die Gewerkschaften in Österreich bemühen sich darum, dass bei einer Vollzeitbeschäftigung jeder Mensch 1.500 Euro Grundlohn haben soll. Da ist auch die Landwirtschaft nicht ausgenommen. Das würde zehn Euro brutto pro Stunde Arbeit bedeuten. Wir sind diesbezüglich mit der Landwirtschaftskammer im Gespräch. Mit ein bisschen gutem Willen sollte das möglich sein. Zehn Euro in der Stunde sind nicht viel, aber eine einigermaßen zumutbare Entlohnung.

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